Süddeutsche Zeitung

Gastkommentar:Der große Irrtum

Der Datenmissbrauch bei Facebook sollte niemanden überraschen. Er war zwangsläufig und im Geschäftsmodell angelegt. Wer blind an die Macht der Daten glaubt, geht hohe Risiken ein. Diese gilt es gegen die Vorteile der Digitalisierung abzuwägen.

Von Gerd Antes

Deutschland ist auf dem direkten Weg in eine bessere Zukunft, die Digitalisierung macht's möglich. So werden die Bürger auf allen Kanälen berieselt. Wenn sogar die Kanzlerin sagt, dass alles bestens sei, wird es schon stimmen, denken viele. Genauere Betrachtung ernüchtert jedoch. In einem wahren Begriffs-Wirrwarr werden Digitalisierung, Vernetzung, Big Data, künstliche Intelligenz und dergleichen Begriffe mehr in beliebigen Kombinationen miteinander verbunden, um damit scheinbar rational den Weg in eine goldene Zukunft zu weisen.

Die Logik ist bestechend: Daten seien das Öl des 21. Jahrhunderts. Sie lieferten die Grundlage für automatisierte Erkenntnis, die uns dann im Rahmen von künstlicher Intelligenz zu unserem Glück verhilft. Notwendig dafür seien der ungehinderte Zugang zu "allen" Daten sowie die technische Infrastruktur für deren Verarbeitung. Ernsthaft? Was freie Nutzung von Daten bedeutet, wurde von Facebook gerade demonstriert.

Der Facebook-"Skandal" ist offensichtlicher Missbrauch von Daten, der leicht zu unterbinden wäre, wenn man es denn wollte. Völlig übersehen wird dabei ein sehr viel komplexeres und bedeutenderes Problem, das alles andere als leicht zu beheben ist. Die religiös anmutende Datenverehrung lebt von der Annahme, dass mehr Daten stets besser sind als weniger und dass Daten letztlich zur Lösung jedes Problems führen. Genau das ist jedoch - gegen jede Intuition - wissenschaftlich falsch. Erkenntnisgewinn aus den "ungeheuren Datenmengen" ist zudem ein massives Problem des Datenschutzes. Mit den unbegrenzt vorhandenen Daten lässt sich jede denkbare Korrelation errechnen, die dann als Kausalzusammenhang (miss)interpretiert wird. Obwohl wissenschaftlich absurd, wurde diese Botschaft 2013 mit dem Buch "Big Data" populär und erreichte sogar den Deutschen Bundestag.

Vergeblich sucht man eine nüchterne Analyse von Nutzen, Risiken und Kosten des großen Datensammelns, die angesichts der angekündigten tief greifenden Veränderungen durch die Digitalisierung eigentlich eine Selbstverständlichkeit wäre. Wer von Facebooks Datenskandal oder dem tödlichen Unfall eines autonomen Uber-Autos überrascht ist, hat allzu leichtfertig den Jubelbotschaften geglaubt, die von einer goldene Datenzukunft kündeten. Nutzen und Fortschritt sind für die Optimisten alles, jede Risikobetrachtung ist nur überflüssig und störend. Doch der Datenmissbrauch bei Facebook ist kein Skandal, er war vielmehr leicht vorhersehbar und ist im Geschäftsmodell des Netzwerks angelegt. Ebenso zwangsläufig ist es zu dem Uber-Unfall gekommen. Der Skandal liegt nicht bei Facebook und Uber, sondern bei denen, die Datenmissbrauch dulden, wegschauen oder unterstützen wie die Nutzer von Facebook. Inkompetenz, Ignoranz und Arroganz sind die Gehilfen.

Wer glaubt, dass viele Daten automatisch zu klaren Aussagen führen, der irrt

Sind Facebook und Uber bloß Ausnahmen? Nein! Die Frage ist nicht, ob es Risiken und Schäden gibt, sondern in welchem Ausmaß. Was kann die Digitalisierung tatsächlich leisten und zu welchem Preis? Um das auszuloten, braucht es alle quantitativen Bewertungsmethoden, die in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt wurden; die Instrumente sind da, man muss sie nur anwenden. Ausgeknipst ist heute die Frage, wie vertrauenswürdig Aussagen sind, die aus Daten gezogen werden. Wer glaubt, ohne ausgefeilte Methodik, nur aufgrund der Datenmenge zu Erkenntnissen zu kommen, befindet sich auf sehr dünnem Eis und wird sehr oft falschen Hinweisen folgen.

Gerd Antes ist Mathematiker und Biometriker.

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Quelle:
SZ vom 07.04.2018
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