Gastkommentar:Der Europäer aus Galiläa

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Warum sich Schüler und Kultusministerien auch heute noch mit Jesus von Nazareth beschäftigen sollten: Nur durch sein Erbe lässt sich die Geschichte unseres Kontinents verstehen. Das christliche Erbe ist daher nicht nur Sache für den Religionsunterricht.

Von Eberhard von Gemmingen

Es ist erstaunlich, auf welche Weise sich die Öffentlichkeit in diesen Tagen mit historischen Persönlichkeiten befasst: In wenigen Tagen erscheint Hitlers "Mein Kampf " in einer kritischen Ausgabe; Millionen deutscher Schüler werden sich vielleicht zum ersten Mal mit diesem Machwerk auseinandersetzen. Noch ein Jahr trennt uns vom Luther-Jubiläum; 2017 wird es 500 Jahre her sein, dass der Reformator Martin Luther seine Thesen in Wittenberg vorstellte. Und vor wenigen Monaten lernten Schüler in der Filmkomödie "Fack Ju Göhte" Johann Wolfgang kennen.

Weniger ist in diesen Tagen von den Lehren jenes maßgebenden Europäers die Rede, dessen 2016. Geburtstag wir soeben mit viel Jubel feierten. Er stammt zwar aus dem religiös umkämpften Nahen Osten, hat aber im Westen Karriere gemacht. Jesus von Nazareth? Der Philosoph Karl Jaspers nannte den Nazarener "maßgebend" für Europa und stellte ihn neben Konfuzius, Buddha und Sokrates. Wissen die deutschen Schüler eigentlich, warum in ihren Kalendern oben 2016 steht?

Müssten sich die Vordenker in den Kultusministerien nicht fragen, ob deutsche Schüler auch und vorher Jesus aus Nazareth kennenlernen sollten, ehe sie sich mit Johann Wolfgang aus Frankfurt am Main beschäftigen? Martin Luther würde sich jedenfalls sehr freuen, wenn erst einmal gründlich über Jeshua gesprochen würde, bevor sie sein eigenes Jubiläum feiern. Denn haben nicht dieser Jeshua mit der Bergpredigt und sein Ahn Mose mit den Zehn Geboten den größten Teil zu den Ideen hinter unserem Grundgesetz beigetragen?

Zum Beispiel die Idee der Menschenwürde, und dass sie auch für Kinder, Greise und natürlich Frauen gilt. Die katholische Kirche hat das zwar lange nicht verstanden, aber Aufklärer haben ihr geholfen. Seelisch Kranke dürfen hierzulande nicht entsorgt werden - im Unterschied zu vielen Ländern Asiens. Die Idee, dass wir Flüchtlinge nicht im Regen oder auf dem Eis stehen lassen, die Vorstellung, dass Bosse der Autobranche ihre Macht und ihr Geld verantworten müssen, die Überzeugung, dass friedliche Muslime auch in Europa Allah anbeten dürfen.

Warum gehen die Uhren zwischen Petersburg und Lissabon, zwischen dem Nordkap und Messina ein wenig anders als die Uhren in Indien, in China, in Arabien? Vielleicht doch auch, weil Wandermönche, gebildete Nonnen und Reformatoren den Menschen nicht nur Lesen und Schreiben beigebracht haben, sondern auch die Bergpredigt dieses seltsamen jungen Mannes aus Galiläa. "Selig die, die andere nicht im Dreck liegen lassen." Die Pfarrerstochter Angela hat es kapiert.

Wissen über Jesus ist nicht nur etwas für den Religionsunterricht

Jesus tat sich damals schwer, und er tut sich heute schwer. Nicht nur bei den Schülern, sondern auch in den Kultusministerien. Denn dort herrscht Arbeitsteilung. Sie sagen: Religionsunterricht ist Kirchensache, da darf sich kein Bundesland einmischen. Aber ist dieser Jesus, den die Christen Christus nennen, nur jemand für den Glauben oder muss man ihn nicht auch als Umdenker und Vordenker kennen, der maßgeblich Rechts- und Sozialkultur, Denk- und Lebensweise geprägt hat? Karl Jaspers nennt ihn die "maßgebende Persönlichkeit" für Europa.

Derzeit macht Mohammed in Europa Karriere. Wir sollen ihn nicht mit Waffen empfangen, sondern mit Argumenten und mit Gedankenfreiheit. Was hätten Voltaire, Kant und Hegel zu tun gehabt ohne den jungen Mann aus Galiläa, mit dem sie einst ringen mussten? Die europäische Philosophie und Geistesgeschichte hätten ohne ihn wenig Denkstoff gehabt und ihre Denker hätten weniger Folianten produzieren können. Und was hätten wir in die Zentren von Köln, Paris und Rom gestellt ohne den Sohn eines Bauhandwerkers aus Galiläa?

Wissen deutsche Schüler, warum Paris von Montmartre überragt wird, woher San Francisco seinen Namen hat, warum Fußballer vor dem Spiel ein Kreuz schlagen? Wissen deutsche Schüler, warum die Uhren in Europa anders gehen als dort, woher viele Flüchtlinge kommen? Wissen sie, warum sich Frauen in Europa nicht verschleiern müssen, warum nicht nur Männer, sondern auch Frauen an politischen Wahlen teilnehmen, warum in vielen Schulen ein Kreuz hängt? Können sie ihren muslimischen Mitschülern sagen, warum sonntags Kirchenglocken läuten, Geschäfte geschlossen sind und man nicht zur Arbeit geht?

Können deutsche Schüler ihren muslimischen Mitschülern sagen, warum ihre Eltern nicht nur im Standesamt geheiratet haben, sondern auch noch in der Kirche? Können sie sagen, wer in Rom der weiße Mann mit Frauenkleidern ist, und warum die Menschen aus aller Welt ihm zujubeln?

Die Flüchtlinge schaffen den Kultusministerien viel Arbeit. Man sollte daher nicht nur Mitleid mit den Flüchtlingen haben, sondern auch mit dem Kultus-Personal. Es darf die Sache Europas nicht dem Religionsunterricht überlassen. "Reli" ist oft in der letzten Stunde, wo man schön müde ist.

Arme Kultusministerien! Was die den Schülern alles zumuten müssen. Könnten wir nicht mal Adolf Hitler, Martin Luther und Johann Wolfgang von Goethe ein wenig Lernzeit wegnehmen und sie dem Zimmermannssohn aus Nazareth widmen? Hat er nicht auch dafür gesorgt, dass wir einmal in der Woche wirklich frei haben, dass dann Glocken über das Land schallen, dass Weihnachten, Ostern und Pfingsten Ferien sind? Auch in den Kultusministerien.

Schön, dass wir jetzt "Mein Kampf" lesen dürfen. Aber wäre es nicht spannender, die Quellen unserer Verfassung in jenem großen Buch zu suchen, das aus dem Land kommt, wo nach einem alten Versprechen "Milch und Honig" fließen könnten, wo aber noch zwei Stämme des Herrn mit einander ringen?

Pater Eberhard von Gemmingen SJ , 79, leitete von 1982 bis 2009 die deutschsprachige Redaktion von Radio Vatikan.

© SZ vom 02.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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