Süddeutsche Zeitung

Gastkommentar:Auch mal mühsam

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Demokratie ist alles andere als selbstverständlich und direkt. Wenn Populisten und Brexiteers dies behaupten, verkennen sie historische Errungenschaften.

Von Hedwig Richter

Sie treiben die Gesellschaft vor sich her: die Populisten und Brexiteers, die Freunde und Deuter der Volksseele. Im Namen der Mehrheit wissen sie es besser, geladen mit Ressentiments schießen sie ihre einfachen Antworten in die Welt hinaus. Sie schüren die Angst vor Fremden, trampeln auf fragilen Gebilden wie der Europäischen Union herum und kriegen beim Wort Klimaschutz eine Wut im Bauch, weil das alles so kompliziert ist. Sie sprechen das nationale Ego an - und das ist immer ein schlagendes Argument.

Aber ist das nicht Demokratie? Wir leben nicht in einer Technokratie, kein Diktator richtet unser Staatsgeschäft. Ist es also nicht ratsam und gut, diese Wut ernstzunehmen? Die Überforderung und der Grimm gegen die Vertracktheit der sich globalisierenden Welt sollten in all ihrer Widersprüchlichkeit nicht vorschnell zur Seite geschoben werden. Dabei ist aber, anders als die Populisten glauben wollen, keineswegs immer klar, wo die Mehrheiten gerade sind. Auch die just erschienene Mitte-Studie zeigt eben nicht jene Eindeutigkeiten, die ihre Macher hineinlesen, vielmehr lohnt es sich, die Menschen in ihren Ambivalenzen zu sehen: Sie sprechen sich für Würde und Gleichheit für alle aus, haben aber Angst vor Veränderungen.

Mehrheiten sind schwankend - und aufgrund des Verfahrens der Massenwahl häufig zufällig. Wären den Brexiteers nicht die Bilder von flüchtenden Menschen dazwischengekommen, hätten sie den Wahlkampf ohne eines ihrer zentralen Argumente führen müssen; wäre Trump nicht zuvor in einer Fernsehshow als genialer Entscheider inszeniert worden, hätten ihm manche der politisch unkundigen Wähler die Regierungskompetenz nicht abgekauft; überhaupt: hätte am Wahltag die Sonne geschienen, wären mehr zur Wahl gegangen. Es ist doch erstaunlich, dass die auf Massenwahlen beruhende Demokratie so gut funktioniert.

Doch es wäre ein Missverständnis, Demokratie als die Regierungsform zu verstehen, die den Mehrheits- und Volkswillen möglichst direkt zum Ausdruck bringt. Solche Ideen hatten nicht zuletzt die Nazis mit ihrem "gesunden Volksempfinden". Tatsächlich ist die Geschichte der liberalen Demokratie zugleich die Geschichte ihrer Einhegung. Die Verfassung weist im Rechtsstaat nicht nur den Regierenden klare Schranken, sondern auch den Regierten: Keine Mehrheit, kein Volkszorn darf die Würde des Menschen antasten. Der Minderheitenschutz ist fundamental für die eingehegten Demokratien, ebenso die Gewaltenteilung. Besonders stark beschränkt das Repräsentationsprinzip den Mehrheitswillen. Das Volk wählt alle paar Jahre, und das ist gut so. Nicht das Volk regiert, sondern die gewählten Profis. Sie beraten sich in langen Prozeduren, ziehen Experten hinzu und finden Kompromisse.

Das diffizile Geflecht der liberalen Demokratie, das sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet hat, ermöglicht es Gesellschaften, in offenen Verfahren Komplexität zu reduzieren. Ein Ereignis wie der Brexit war nur möglich, weil die Briten diese historische Einsicht in den Wind geschlagen haben: Die Zugehörigkeit zur Europäischen Union als klare Ja/Nein-Entscheidung verkennt die unzählbaren Streitfragen des Themas. Das gleiche gilt für die Nation, die sich weder absolut setzen noch mit weltbürgerlichem Gestus verabschieden lässt. Wie viel Nation ist nötig für Demokratien, die sich doch innerhalb von Nationalstaaten entwickelt haben? Andererseits lohnt es sich, für die Europäische Union, dieses wunderbare Friedensprojekt, nationale Kompetenzen aufzugeben. Ähnlich gibt es auch bei der Immigration kein klares Nein gegen Ausländer und kein schlichtes Ja zur Einwanderung; zahlreiche Faktoren stehen zur Debatte wie die Notwendigkeit von Arbeitskräften, die Gefahr von Arbeitslosigkeit, die Kriegsgefahr für die Geflüchteten. Parlamentarische Verfahren dienen dazu, solche Komplexitäten besser bewältigen zu können.

Historisch hat sich Demokratie nicht zufällig gemeinsam mit dem Bürgertum entwickelt. Die liberale Demokratie als eine Herrschaftsform der Zähmung und Selbstbeschränkung ist ein zutiefst bürgerliches Projekt. Definitionen des Bürgertums verweisen auf das Kommunikative und auf Schriftlichkeit, auf Selbstständigkeit, auf den Respekt vor Leistung und mit all dem zusammenhängend immer wieder auf Bildung. Von Anfang an war Demokratie ein Erziehungsprojekt. Denn mit dem Anspruch auf Gleichheit war zwar keineswegs gesetzt, dass nun alle mitregieren sollten, aber da prinzipiell für alle der Gleichheitsanspruch galt - so die Haltung der maßgeblichen Liberalen -, sollten alle zu mündigen Bürgern erzogen werden. Die Sozialdemokratie in Deutschland hat am Ende des 19. Jahrhunderts nicht nur deswegen entscheidend zur Demokratisierung der Gesellschaft beigetragen, weil sie sich auf Wahlen und Parlamentarismus einließ und darin die unteren Schichten mitnahm, sondern auch, weil sie in zahlreichen Vereinen und Institutionen, in Vortragsreihen und Zeitschriften wesentlich die Männer und zunehmend auch die Frauen politisch gebildet und ihre Mündigkeit bestärkt hat. Die Demokratisierung der Sozialdemokratie war ihre Verbürgerlichung.

Die Gesellschaft sollte sich nicht von jenen jagen lassen, die sich als Künder des direkten Volkswillens präsentieren. Es gibt in modernen Gesellschaften selten einfache Antworten. Moderne Demokratien sind auf Komplexität gepolt. Deswegen ist die Bildung der Bürgerinnen und Bürger so wichtig. (Auch wenn dieser empirische Fund gerne ignoriert wird: Nicht ökonomische Deprivilegierung, sondern geringere Bildung korreliert signifikant mit der Wählerschaft von Donald Trump.) Wenn Wikipedia Wissen allen unkompliziert zur Verfügung stellt und ganze Bibliotheken gratis von zuhause aus zugänglich sind, birgt das schier unvorstellbare Möglichkeiten. Und wenn die Zahl der Studierenden steigt, führt das nicht nur zur beklagten Nivellierung einer Institution, die einst elitär und männlich war. Es bedeutet vor allem, dass sich Menschen viele Jahre länger als zuvor Wissen aneignen können. All das ist gut für Demokratie. Denn Demokratie ist mühsam und hoch voraussetzungsvoll. Sie ist alles andere als selbstverständlich und direkt.

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Quelle:
SZ vom 30.04.2019
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