Anfang April las ich in der Washington Post einen Artikel über Ralph Dannheisser, der 1938 in Hamburg als "Jewish baby in Nazi Germany" - wie er schreibt - geboren wurde. Dannheisser überlebte den Holocaust nur, weil er und seine Familie kurze Zeit später nach Holland emigrieren konnten und 1940 schließlich ein Visum für die USA bekamen. Seine beiden Großeltern wurden in Konzentrationslagern ermordet. Nun, mit fast 80 Jahren, entscheidet dieser Mann, die deutsche Staatsangehörigkeit anzunehmen. Er ist sogar stolz, Deutscher zu sein, weil er glaubt, dass Deutschland heute ein ganz anderes Land ist: vielfältig, einladend und offen.
Die Hochzeit der Studentenbewegung, die mit der Ermordung von Benno Ohnesorg am 2. Juni 1967 begann, und deren Ende nach dem Attentat auf meinen Vater am 11. April 1968 besiegelt war, dauerte nur sehr kurz. Was bleibt von Achtundsechzig, ist deshalb keine einfache Frage. Für mich steht die Öffnung der Gesellschaft, die danach in Deutschland schrittchenweise einsetzte, sehr weit oben. An diesem erstaunlichen Wandel hat die Studentenbewegung auch einen Anteil. Eine neue Generation von Jusos, Liberalen, SDSlern und RCDSlern wurde antiautoritär politisiert. Joschka Fischer, Gerd Langguth, Gerhard Schröder und hunderttausend Andere beanspruchten für sich, die politische Verantwortung übernehmen zu wollen und begaben sich auf den Marsch durch die Institutionen - mein Vater wäre vielleicht auch unter ihnen gewesen.
Als jemand, der erst nach der Wiedervereinigung als Zehnjähriger für längere Zeit in Deutschland gelebt hat, will ich es mir aber nicht anmaßen, die Frage "Was bleibt?" für andere zu beantworten. Ich persönlich glaube, dass besonders die antiautoritäre Ausrichtung der Studentenbewegung in den Jahren 1967/68 die Entwicklung von Deutschland bis heute beeinflusst.
Es mögen mir einige widersprechen, den Fokus auf den antiautoritären Ansatz der 1968er zu legen, zersplitterten sich doch damals die SDSler nach seiner Auflösung im Jahre 1970 in autoritäre K-Gruppen, bildeten militantere Gruppierungen oder verschwanden einfach. Meine Mutter beschreibt in ihrem neuen Buch "1968: Worauf wir stolz sein dürfen" eindrucksvoll die autoritären und frauenfeindlichen Ansichten mancher Mitstreiter meines Vaters.
Aber auch wenn nicht alle der Aktivisten von damals den antiautoritären Geist aufgenommen haben, so hat diese Form des Protests ein Umdenken in der Bevölkerung provoziert. Beispielsweise als mein Vater am Heiligabend 1967 in der Berliner Gedächtniskirche von der Kanzel über den Vietnamkrieg sprechen wollte, aber stattdessen von den versammelten Gläubigen als unerwünschter Eindringling verprügelt wurde, hat er die Menschen gezwungen, sich mit gesellschaftlichen Problemen und Repressionen auseinanderzusetzen.
Der Protest gegen das Autoritäre ist Teil unserer Kultur geworden. Von den großen Massendemonstrationen bis zu Bürgerbegehren hat sich eine rege Teilnahme und Mitbestimmung in der Demokratie jenseits der Parteien etabliert. Doch über diese großen politischen Themen der 1968er, die öffentlichen Auseinandersetzungen, die globale Politik, wurde bereits viel geschrieben.
Meine Großmutter hat Jack Kerouacs Buch verbrannt
Der eigentlich große Wandel ist meines Erachtens in der Familie geschehen. Wenn meine Mutter Gretchen von ihrer Beziehung mit ihrer Mutter erzählt, so ist diese stets von Strenge und Gehorsam geprägt. Eine Geschichte ist mir besonders im Gedächtnis geblieben: Meine Mutter hatte das Manifest der Beat-Generation, "On the road" von Jack Kerouac, unter ihrem Bett versteckt, um es nachts mit der Taschenlampe lesen zu können. Aber ihre Mutter hatte das Buch beim Putzen gefunden und es vor den Augen meiner Mutter verbrannt. In ihren Augen, als einer überzeugten Evangelikalen, durfte ihr Kind niemals ein solches Werk lesen.
Diese Geschichte kommt einem heute ungeheuerlich vor, als wäre sie auf einem anderen Planeten passiert. Meine Mutter hat mich nie so behandelt, sie hat mit der Erziehung ihrer Eltern gebrochen.
Meine Kindheit prägten eher Liebe und Laisser-faire. In der Retrospektive wirkt einiges dieser neuen Erziehungsmethoden übertrieben, pädagogisch fragwürdig und etwas anstrengend. Meine Mutter Gretchen hat mir stets viel Freiheit als Person gelassen, doch die Anleitung ist manchmal etwas zu kurz geraten. In meiner Kindheit kann ich mich überhaupt nur an einen einzigen Vorfall erinnern, bei dem mich meine Mutter auf mein Zimmer geschickt hat (ich hatte die Schule geschwänzt). In meinem Bekanntenkreis gelte ich schon als harter Hund, weil ich meine Kinder nicht nur aufs Zimmer schicke, wenn sie etwas verbrochen haben, sondern auch die Tür zuknalle.
Mein Vater hat in der antiautoritären Erziehung schon sehr früh darin einen Weg erkannt, die Gesellschaft voranzubringen. In seinem Abituraufsatz aus dem Jahre 1961 schrieb er: "Die Pflichten des Staatsbürgers sind mit dem Abgeben des Stimmzettels nicht erschöpft [...] Das muss tatsächlich erzogen werden. Die Grundlagen dazu sind uns von Gott mitgegeben. Wir haben die Pflicht, die Anlagen durch Erziehung zur Gesinnung werden zu lassen."
Damit meinte er auch, dass in der Familie die antiautoritäre Gesinnung erzogen werden muss. In einem Tagebucheintrag aus dem Jahr 1969, da lebte die Familie nach dem Attentat in London, beschreibt er, wie diese Erziehung in der Praxis aussah: "Wir haben uns dem sich entwickelnden Kind zu unterwerfen, soll heißen, wir dürfen das Kind nicht mit Hilfe von gesellschaftlichen bedingten Sachzwängen [...] unterdrücken. Hosea drückt schon jetzt proletarischen Klassencharakter aus, weil sein Verhalten immer selbständiger geworden ist; die wohl nun entstandene antiautoritäre Verhaltensweise wird die entscheidende Permanenz der Entwicklung [...] gewährleisten."
Die Familie als Ort, um die antiautoritäre Gesinnung weiterzutragen, war für meinen Vater zentral. Zwar möchte ich mich nicht unbedingt meinen Kindern unterwerfen, aber 1968 hat auch dazu geführt, dass es heute ganz natürlich ist, dass die Familie nicht mehr auf strenger Gehorsamkeit basiert, sondern auf Zuneigung und gemeinsam verbrachter Zeit.