Gastbeitrag:Was Flucht lehren kann

Berlin zieht politische Exilanten aus der ganzen Welt an. Das ist eine Chance für die Stadt und das ganze Land, den hiesigen Kanon zu erweitern.

Von Burcu Dogramaci

Für das Maxim-Gorki-Theater schreibt der türkische Journalist Can Dündar eine Kolumne. Die Lyrikerin Widad Nabi ist auf der Online-Plattform "weiterschreiben.jetzt" präsent. Und an seiner Kreuzberger Schauspielschule unterrichtet der Regisseur Mustafa Altıoklar Schauspielschüler. Alle drei teilen die Erfahrung des Exils und den Wohnort Berlin. Seit einigen Jahren entwickelt sich die Hauptstadt zu einem Fluchtort für Menschen, die aus politischen Gründen ihr Heimatland verlassen müssen. Für die türkischen Exilanten ist ausschlaggebend, dass sich bereits seit den Fünfzigerjahren eine migrantische Community hier ansiedelte und nach dem Militärputsch 1980 politisch Verfolgte aus der Türkei in die Stadt kamen. Berlin ist inzwischen aber auch für russische, syrische und andere Geflüchtete eine zweite Heimat geworden; hier treffen sich Blogger, Journalisten, Aktivisten, Künstler und Schriftsteller, die in ihren Heimatorten um ihr Leben fürchten mussten. Doch ist den Einheimischen tatsächlich bewusst, welche Chancen in diesem Zuzug liegen? Wie lässt sich das Potenzial einer lebendigen Exil-Szene in der Stadt und darüber hinaus nutzen?

Interessant ist, dass sich in dieser gegenwärtigen Bewegung historische Fluchtlinien doppeln und zugleich in umgekehrter Richtung verlaufen. Nach der Russischen Revolution war Berlin neben Istanbul und Paris ein wichtiger Zufluchtsort für 300 000 russische Emigranten, denen etwa Vladimir Nabokov sein Buch "Maschenka" widmete. Von 1933 an kam es zum Brain-Drain aus Berlin, als Verfolgte der Hitler-Diktatur die Stadt verließen. Zu Metropolen des NS-Exils wurden Paris und New York ebenso wie Istanbul und Bombay (heute Mumbai).

Die Exilanten in der Zeit des Nationalsozialismus konnten sich - abhängig von ihren Fluchtorten - selbst organisieren, Zeitschriften ins Leben rufen, Kulturzentren gründen. Obgleich der Neuanfang für viele den Verlust ihrer Arbeit bedeutete, hatten einige im Ausland Möglichkeiten, Gehör zu finden, zu publizieren und teilzunehmen an Debatten, die das lokale Publikum anregten. So sprach sich der Kommunalwissenschaftler und spätere Berliner Oberbürgermeister Ernst Reuter in der Türkei der Vierzigerjahre für den städtischen Erwerb von Grundbesitz aus. Die Gestaltung von Städten sollte nicht allein in der Hand des Kapitals liegen. Der Psychologe Kurt Lewin begründete in seinem US-Exil das Forschungsfeld Gruppendynamik und brachte seine Erkenntnisse als Berater für Kommunen ein.

Heute kommen Menschen mit Knowhow aus vielen Herkunftsländern in der deutschen Hauptstadt zusammen und können Erfahrungen einspeisen, etwa zu Themen wie das Recht auf Stadt oder das Zusammenleben in einer sich diversifizierenden Gesellschaft. Und ihre Beiträge zu philosophischen oder kulturtheoretischen Diskussionen können bestehende Repertoires in Kunst, Theater und Musik erweitern.

Exilanten, die heute in Berlin leben, haben einen neuen Blick auf ihre Ankunftsorte. Ihr Wissen sollte genutzt werden - in Thinktanks, in Kommissionen oder beratenden Gremien. Und es muss dafür gesorgt sein, dass die Exilanten von heute Möglichkeiten der Selbstorganisation haben. Nur wenn sie Handlungsmacht besitzen, werden ihre Stimmen als Akteure der Gesellschaft hörbarer und ihre Perspektiven sichtbarer.

Burcu Dogramaci, 47, lehrt Kunstgeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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