Am 15. Januar hat Wladimir Putin in seiner Rede vor dem Föderationsrat eine Änderung der russischen Verfassung angekündigt. Freunde wie Gegner des Präsidenten rechneten schon lange damit, dass er sich etwas einfallen lassen würde, um seine Macht auch über 2024 hinaus zu sichern. Dem stand bisher die Verfassung im Weg. Daher waren verschiedene Optionen in Betracht gezogen worden; am attraktivsten erschien dem Kreml wohl ein Zusammenschluss Russlands mit Weißrussland, aber dagegen sträubte sich dessen Präsident Alexander Lukaschenko. So blieb die Möglichkeit, die Befugnisse des Präsidenten auf ein anderes Amt zu übertragen und in dieses zu wechseln - oder die Beschränkung auf zwei Amtszeiten zu streichen.
Da der Präsident sich selbst aber als Juristen und modernen Menschen betrachtet, hat er sich dagegen entschieden, in Russland eine Dschamahirija nach libyschem Vorbild auszurufen. Das Schicksal von Muammar al-Gaddafi inspiriert ihn nicht besonders. Stattdessen soll die Verfassung nur ein kleines bisschen geändert werden; gerade genug, um den Zähler für Putins Amtszeiten wieder auf null zu setzen, ohne rot zu werden - aber auch nicht so sehr, dass man ein Referendum abhalten müsste.
Lange hat Putin gezögert und damit Experten wie Wähler verunsichert. Erst hieß es, das Parlament solle mehr Macht bekommen. Dann stand genau das Gegenteil im Entwurf. Putin erklärte das damit, er wolle eine "Doppelherrschaft" vermeiden. Der Begriff bezieht sich auf die Zeit vor der Oktoberrevolution, als die provisorische Regierung und die sozialistischen Arbeiter- und Soldatenräte gleichermaßen die Macht für sich beanspruchten.
Putin schlug also vor, die Möglichkeit einer dritten Amtszeit zu streichen und ließ noch ein bisschen Larifari in den Entwurf schreiben wie den von der Familie als "Bund zwischen Mann und Frau". Dann machte die Kosmonautin und Duma-Abgeordnete Walentina Tereschkowa scheinbar "völlig überraschend" den Vorschlag, ihm eine Regierungszeit bis 2036 zu ermöglichen. Der überaus bescheidene Präsident erklärte sich nur unter der Bedingung einverstanden, dass das Verfassungsgericht und das Volk zustimmen.
Hier muss man anmerken, dass das Verfassungsgericht gemäß der geltenden Verfassung keine Gesetze überprüfen darf, die noch nicht in Kraft sind. Mit der neuen Verfassung dürfte es das, aber dann wäre die Verfassung ja schon in Kraft, und das Verfassungsgericht kann über die geltende Verfassung kein Urteil mehr sprechen. An dieser Stelle wird die Idee hinter der "Abstimmung" klar, die der Vorsitzende des Verfassungsgerichts selbst Putin vorgeschlagen hat: Er hat sich die hinterlistige Konstruktion von einer "schwebenden Verabschiedung der Verfassung" ausgedacht, die es erlaubt, Gesetzentwürfe zu prüfen, obwohl die Verfassung noch nicht in Kraft getreten ist.
Klingt verrückt? Ist aber Legalismus - Taschenspielertricks mit dem Gesetz. Und warum lassen sie kein richtiges Referendum abhalten, wie es im Gesetz steht, sondern wählen die Form einer einfachen Abstimmung, die so gar nicht vorgesehen ist? Weil die Anforderungen für ein Referendum viel höher sind; es müsste ein Jahr lang vorbereitet werden und ist schwerer zu fälschen. Ohne Fälschungen käme Putin nicht damit durch; das Volk ist nicht besonders begeistert von der Idee, dass er weitere 16 Jahre herrschen kann.
Und die Zeit drängte. Alles lief nach Plan, es blieben nur noch Wochen. Aber dann kam das Virus, und die Opposition startete eine Kampagne gegen eine Abstimmung während der Pandemie. Wird es Putin gelingen, seinen Plan später durchzusetzen? Wahrscheinlich. Aber nicht ohne Verluste. Sein ungeschicktes Vorgehen im Kampf gegen Corona hat seinem Ansehen geschadet. Es wird viel nachgeholfen werden müssen, um das erwünschte Resultat zu erhalten.
Europa erwartet noch eine schöne Überraschung. Europas Politiker und Diplomaten sind es gewohnt, dass internationale Verträge geschlossen werden, um sie einzuhalten. Wenn ein Vertrag unterzeichnet und ratifiziert ist, wird die nationale Gesetzgebung damit in Einklang gebracht. Im schlimmsten Fall kündigt ein Land einen Vertrag auf, aber auch dann werden die Verpflichtungen so lange erfüllt, bis er erloschen ist.
Wie auch immer: Unter zig irrwitzigen Änderungen der russischen Verfassung, die kaum davon ablenken können, dass es hier um den Erhalt der Macht Putins geht, hat sich ein kleiner Absatz darüber eingeschlichen, dass internationale Verträge nicht stets als bindend erachtet werden. Wörtlich: "Urteile zwischenstaatlicher Organe, die auf der Grundlage internationaler Abkommen getroffen wurden, müssen nicht erfüllt werden, wenn sie auf einer Auslegung basieren, die der Verfassung der Russischen Föderation widerspricht." Einfach ausgedrückt: Wir unterschreiben ein Abkommen und vereinbaren Regeln, nach denen Streitfälle gelöst werden. Aber einhalten werden wir sie nur, wenn unser Verfassungsgericht, das vollständig vom Präsidenten abhängig ist, das gutheißt.
Der Kreml hat eine Reihe von Fällen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) und anderen internationalen Instanzen verloren. Insbesondere wurde ein Urteil gefällt über den Anspruch der Aktionäre der Firma Yukos, die ich früher geleitet habe. Das Schiedsgericht in Den Haag sprach ihnen Schadenersatz in Höhe von mehr als 50 Milliarden US-Dollar zu, der EGMR mehr als zwei Milliarden. Zehn Jahre lang hatte das Gericht in Den Haag verhandelt, unter Beteiligung eines von Russland entsandten Richters. Es kam zu dem Schluss, dass der Staat das Unternehmen vorsätzlich geplündert hat.
Der Kreml hat gelernt, das internationale Rechtssystem in seinem Interesse zu nutzen, will aber die damit verbundene Verantwortung nicht tragen. Er erfüllt Verträge nur von Fall zu Fall. Das Volk vergisst solche Winkelzüge schnell, bald werden nur noch Juristen an dieses Manöver denken: als ein weiteres Beispiel für die schamlose Vergewaltigung des Rechts. Die europäischen Diplomaten aber sollten eines nicht vergessen: Diese russische Führung hat Täuschung und Meineid zu einem Bestandteil ihrer Verfassung gemacht.
Aus dem Russischen von Julian Hans.