Gastbeitrag:Tante Inges Urlaubsbilder

Das Fotografieren hat sich verändert, seit alle es immerzu tun. Darin liegt eine Chance: Der Alltag bleibt in Erinnerung.

Von Steffen Siegel

Tante Inges Fotoalben stehen nun online: Familienfeste, Urlaubsreisen, Kaffeeklatsch. Ihr ganzes Leben hatte die Hobbyfotografin aus Aschaffenburg mit der Kleinbild-Kamera begleitet. So kamen mehr als 16 000 Aufnahmen zusammen. Als Ingeborg Lohs Neffe Karsten die Papierabzüge im Nachlass fand, entschied er, sie auf Instagram und Twitter zu veröffentlichen.

Heutzutage sind 16 000 Fotos keine bemerkenswerte Zahl. Gerade jetzt zur Urlaubszeit füllen sich die Speicherkarten von Handys und Kameras schneller, als man posieren kann. Wer das später einmal alles betrachten soll, erscheint längst nicht mehr wichtig. Und kaum jemand wird die Diaabende mit den schönsten Urlaubsmotiven vermissen. Entscheidend ist inzwischen die Geste des Festhaltens, nicht das Aufgezeichnete selbst. Immerhin, für eines sind solche Bilder nützlich: Direkt aus dem Strandkorb oder vom Gipfel verschickt, ersetzen sie jene Postkarten, die man früher noch kurz vor dem Rückflug hastig schrieb. Selbst wer zu Hause sitzt, reist heute mit den fotografierenden Freunden fast in Echtzeit um die Welt.

Auch Tante Inge war gern unterwegs. Ganz nebenbei erzählen ihre Aufnahmen eine kleine Kulturgeschichte der Bundesrepublik auf Reisen: zuerst nach Italien, später auch zu exotischeren Zielen. Man kann solche Einblicke indiskret finden. Spätestens bei zweitem Hinsehen aber wird klar, wie wertvoll die Aufzeichnungen des Alltäglichen sind. Es ist eine beiläufige Erinnerung daran, mit dem Inhalt der eigenen Speicherkarten sorgsamer umzugehen. Jene fragilen Archive enthalten digitale Postkarten, die an eine spätere Zeit adressiert sind. Es lohnt sich, diese Nachrichten zu bewahren.

Steffen Siegel ist Professor für Theorie und Geschichte der Fotografie in Essen.

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