Süddeutsche Zeitung

Gastbeitrag:Streitbar

Das Ende der Demokratie droht? Im Gegenteil. Aus historischer Perspektive ist keine Staatsform so erfolgreich und vielversprechend wie die Volksherrschaft. Doch sie ist kein Glücksversprechen, sondern muss immer wieder neu ausgehandelt und erkämpft werden.

Von Hedwig Richter

Geht es mit den europäischen, transnationalen, aufgeklärten Zeiten zu Ende? Stirbt die Demokratie, so wie sie bisher erschien - Frieden, Gerechtigkeit, Wohlstand fördernd? Es ist beachtlich, mit welcher Verve gerade ihr Ende herbeigeschrieben wird. Die einen sehen im Rechtsextremismus ihren Todesstoß, die andern im Neoliberalismus, wieder andere rufen gleich die Postdemokratie aus, in der die Volksherrschaft als Scheinveranstaltung zur Beruhigung konsumgeiler Massen rangiert. Und rechte Propheten haben schon immer gewusst, dass im Westen allenfalls Pseudodemokratien ihr Wesen treiben.

Die Deutschen erweisen sich als Meister der Apokalypse. Wissenschaftlerinnen sprechen unter dem Ruf "Weimar" von präfaschistischen Zeiten. Nazis hätten, so wird geklagt, das Parlament gekapert. Auf Twitter heißt es: Mit Ausnahme weniger Aufrechter sähen die Deutschen genüsslich zu, wie Menschen im Mittelmeer ertrinken. Und der Spiegel fasst zusammen, was alles in Deutschland verloren sei: "Fußball, Politik, Wirtschaft".

Krisendiskurse können als Weckruf dienen, und Kritik gehört zur Demokratie wie die Freiheit. Aber wenn aus Warnungen Nekrologe werden, ist niemandem geholfen. So werden der anschwellende Antisemitismus und Rassismus weniger als Probleme attackiert, denen eine Demokratie viel entgegenzusetzen hat; allzu oft dienen sie resignativ als Nachweis der angeblichen Verrohung der Massen.

Diese bemerkenswerte Geringschätzung gegenüber den Massen - immerhin dem Volk - vermengt sich unversehens mit den Gesinnungen der Rechtsextremen zu einem Zerrbild der Gesellschaft: Denn auch diese sehen die Mörder unterwegs, das Recht zerstört, die Gemeinschaft aufgekündigt.

Doch Demokratie lässt sich nicht in Panikattacken fassen. Ihre Analyse bedarf der historischen Perspektive. So zeigt sich: Demokratie kann nicht im Sturmschritt errichtet werden, sie entfaltet nicht umgehend die Segnungen der Moderne. Sie braucht Jahrzehnte (mindestens), um Wurzeln zu fassen. Ihre Versprechen von Wohlstand und Fairness stellen sich häufig erst nach langer Zeit ein, wie quantitative Untersuchungen zeigen.

Noch nie lebten so viele Menschen in Demokratien wie in diesem Jahrtausend

Beim Blick auf die Geschichte wird deutlich, dass es die goldene Vergangenheit der Demokratie nie gab, von der die Untergangserzählungen leben. Wann sollte sie gewesen sein? In den Fünfzigerjahren, in denen die politische Klasse noch Nazis in ihren Reihen hatte? In den Siebzigern, als der Linksextremismus das Land erschütterte? Auch international gestaltet sich die Suche nach der großen Vergangenheit wenig überzeugend. Die Welt des Kalten Krieges etwa, mit brutaler Hegemonie des Sowjetimperiums und fragwürdigen Kriegen der Supermächte, lässt sich kaum als demokratischer Jungbrunnen verstehen.

Statistisch gesehen ist nur für die vergangenen 13 Jahre ein tatsächlicher Rückgang an Demokratien festzustellen, wozu die Entwicklungen in der Türkei und in Ungarn oder der Niedergang von Recht und Wohlstand in Lateinamerika gehören. Geschichte aber verläuft nicht linear, es gibt immer Rückschlage. So ergibt sich eine geradezu verblüffende Erfolgsgeschichte, wenn sich der Blick historisch weitet und die erste Jahrhunderthälfte in die Analyse einbezogen wird. Gab es in den Zwanzigerjahren rund 30 Länder mit demokratischer Herrschaft, so waren es 1989 knapp 70 und 1995 schon 115, während es heute mehr als 120 sind. Noch nie lebten so viele Menschen in Demokratien wie in diesem Jahrtausend - sowohl absolut als auch prozentual. Nur Zyniker können darüber hinwegsehen, welch ein Gewinn das für die Bevölkerungen bedeutet.

Die Geschichte der Demokratie ist wunderbar, aber kein Wunder. Denn weltweit stellt Demokratie für die Mehrheit der Menschen nach wie vor die attraktivste Staatsform dar, wie eine Umfrage des amerikanischen Pew Research Centers zeigt. Sie ist hocheffizient, wirkt befriedend, weil sie reibungslose Machtwechsel organisiert, und nirgendwo geht es den Ärmsten so gut wie in alten und stabilen Demokratien.

Allerdings, auch das zeigt die Geschichte: Demokratie ist kein Highway zum Glück, sie ist keine Feier ewiger Harmonie, sondern muss immer wieder ausgehandelt und erstritten werden. Das, was heute Populismus heißt, stellte schon immer eine der verführerischen Spielarten von Demokratie dar. Die amerikanische Geschichte steckt voller Hasardeure und Demagogen, sie ist eine Chronik von Gewalt und Rassismus. Und in Frankreich hielten im 19. Jahrhundert allerlei große Männer Plebiszite mit gefälschten und hochprozentigen Ergebnissen ab, um ihre Herrschaft bestätigen zu lassen.

Im 20. Jahrhundert waren es nicht zuletzt Demokratien, die faschistischen Systemen vorausgingen. Heute aber herrschen keine Krisenzeiten, wie sie während der Zwanziger- und Dreißigerjahre die Welt erschütterten, auch hat nicht gerade ein Weltkrieg eine florierende, sich globalisierende Welt zerstört, so wie es durch den Ersten Weltkrieg geschehen ist. Anders als in der Zwischenkriegszeit entfalten heute die langen demokratischen Jahrzehnte ihre stabilisierenden Kräfte. Dazu gehört, dass Gewaltenteilung und Grundrechte die schlimmsten Mehrheits-Eskapaden zähmen.

Die Fatalisten, die moderne Demokratien dem Faschismus nahe glauben, haben ein ahistorisches Ideal. Volksherrschaft eignet sich nicht, reine Lehren umzusetzen. Denn Konflikte gehören ebenso zur Demokratie wie unappetitliche Zeitgenossen und tumbe Volksvertreter. Gebildete sollten daher nicht angewidert dem Kulturpessimismus verfallen. Denn - auch das lässt sich aus der Geschichte lernen - Demokratie war nicht zuletzt ein Projekt der gebildeten Eliten, die früh erkannten, welche Chancen für alle in dieser Staatsform stecken. Wem die Demokratie am Herzen liegt, der sollte nüchtern kalkulieren und in Demut bedenken: Menschen sind aus krummem Holz geschnitzt.

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Quelle:
SZ vom 14.08.2018
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