Süddeutsche Zeitung

Gastbeitrag:Starke Frauen

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Im 200. Jubiläumsjahr gilt es, den Autor neu zu entdecken. Seine Texte sind Lehrstücke für den Kampf der Geschlechter.

Von Frauke Berndt

In diesem Jahr feiert die Schweiz den 200. Geburtstag zweier großer Männer: den des Industriellen Alfred Escher, Erfinder der modernen Schweiz, und den des Schriftstellers Gottfried Keller, Erfinder der modernen Literatur. Beide haben den Umbau Europas im 19. Jahrhundert maßgeblich geprägt. Sie zu feiern ist daher nicht allein eine Schweizer Angelegenheit. Keller ist nicht nur ein kanonischer Autor, der bis heute auf keiner Leseliste deutscher Gymnasien fehlt, er ist vor allem auch ein europäischer Autor, dessen Weg immer wieder für mehrere Jahre in die intellektuellen und politischen Metropolen München, Heidelberg und Berlin führte.

Allerdings ist 2019 im Hinblick auf seine Jubiläen bisher nicht nur ein männerlastiges Jahr, sondern es hält auch in Sachen Keller wenig Überraschungen bereit. Einig ist man sich noch immer oder schon wieder vor allem über eines: Mit den Frauen habe es nicht wirklich geklappt bei Gottfried Keller. Reich ist das biografische Material über solche Frauen aus seinem Leben, die Keller gewollt, aber nicht bekommen habe. Doch ist das wirklich schon alles, was uns dieser Autor über das Verhältnis der Geschlechter zu erzählen hat? Schließlich gilt: Leben ist Leben und Text ist Text.

Statt die Beziehungsgeschichten eines toten Mannes - Schriftsteller hin, Künstler her - aufzuarbeiten, gibt es weitaus Aufregenderes zu bergen: Kellers lebendigen Schatz von Fantasien, Wünschen, Ängsten und Praktiken. In ihnen stellt die bürgerliche Gesellschaft des 19. Jahrhunderts eines ihrer zentralen Probleme aus, das auch die (post-)bürgerliche Gesellschaft im 21. Jahrhundert, im Jahr nach der "Me Too"-Debatte, noch immer maßgeblich beschäftigt: das Problem der Sexualität.

In der Literatur des 19. Jahrhunderts lässt sich viel über die bürgerliche Ordnung der Geschlechter und die Ökonomie des Begehrens lernen. Allerdings darf man dazu literarische Texte nicht als biografische Dokumente lesen. Man muss sie vielmehr als Fenster zum kulturellen Imaginären begreifen. Denn an die Literatur übertragen Gemeinschaften seit Alters her die Aufgabe, ihre Ambivalenzen auszudrücken und auszuleuchten. Liest man Klassiker auf diese Weise, lässt sich noch einiges entdecken, was auch für das heutige gesellschaftliche Miteinander lehrreich sein kann.

Wenige Texte sind so radikal wie Kellers Erzählungen und Romane. In den "Sieben Legenden", in "Martin Salander" oder im "Grünen Heinrich" fehlt, was die biografischen Annäherungen an einen Autor dafür im Übermaß prägt: Idealisierung, Kitsch und Verklärung. Die Erzählungen und Romane bilden nämlich weder Kellers Leben noch Land und Leute ab, obwohl seine fiktionalen Welten ihre Namen, Orte und historischen Ereignisse mit der realen Welt teilen. Kellers Texte erlauben tiefe Einsichten in das kulturelle Imaginäre, indem sie an die Ränder und in die Abgründe des Miteinanders der Geschlechter führen. Sie zeigen, wie Frauen sowohl Opfer als auch Täterinnen sind - und wie sie am Ende in ihrer Sexualität triumphieren.

Keller bedient sich der Venus-, Marien- und Heiligen-Ikonografie, um insbesondere die als bedrohlich wahrgenommene weibliche Sexualität in immer neuen Varianten und Versuchen zu bewältigen - oder sie eben nicht zu bewältigen. Gerade das macht mitunter die Faszination seiner Texte aus.

Sein formaler Clou besteht im stets perspektivischen Erzählen: Da ist beispielsweise Frau Regel Amrain aus der gleichnamigen Erzählung, eine Vertreterin bürgerlicher Moral, die bei einem Tête-à-Tête den eigenen Sohn als den Heiligen Georg wahrnimmt. Zur Gewalt im Miteinander der Geschlechter gehört auch der masochistische Leidensvertrag, den Jole mit dem "schlimm-heiligen Vitalis" in den "Sieben Legenden" abschließt. Sie erzieht ihn so, dass seine Perversion - das Fesseln und Bekehren von Büßerinnen - in ein Leben nach bürgerlichen Werten und Normen eingebunden werden kann. Diese Werte und Normen sind dann schließlich in jenem Dorfe außer Kraft gesetzt, in dem Sali und Vrenchen Shakespeares "Romeo und Julia" wiederholen. Nach der Verführung zwischen "Mohnblumen" und "Mohnrosen" - beides Symbole des Schlafes, aber auch des Todes - suchen sie gemeinsam "im Wasser den Tod".

Dass weibliche Sexualität mit dem Tod bestraft wird, führt zum Meretlein im "Grünen Heinrich". Im fiktiven Tagebuch eines Pfarrers findet sich eine der ersten Missbrauchserzählungen in der deutschsprachigen Literatur, die von den körperlichen und seelischen Misshandlungen eines siebenjährigen Mädchens erzählt. Um dem eigenen pädophilen Begehren Herr zu werden, lässt der Pfarrer Meret als Heilige und Hure Maria Magdalena porträtieren. Wie ein Tier ist Meret einsam und allein "in einem Grüblein" gestorben, "so sie in den Erdboden hinein gewühlet, als ob sie hineinschlüpfen wollte".

Erst eine alttestamentarische Judith-Figur rächt sie alle: In Heinrichs Jugendgeschichte gleicht die begehrte Witwe Judith nicht nur "einem über lebensgroßen alten Marmorbilde". Ihrer selbstbestimmten Sexualität ist Kellers Protagonist Heinrich nicht gewachsen. Panische Angst - um nicht mit Freud zu sagen: Kastrationsangst - löst die Frau aus, wenn sie Heinrich "beim Kopfe kriegte und ihn auf ihren Schooß preßte".

Nach diesem Durchgang durch einige seiner Texte stellt sich die Frage im Jahr des 200. Geburtstags von Gottfried Keller noch einmal neu: Gibt es 2019 Grund zum Feiern? Ja, den gibt es. Denn der Fortschritt der bürgerlichen Gesellschaft bemisst sich an den kleinen Etappenzielen des großen Kampfes für ein Miteinander der Geschlechter, in dem Kinder nicht mehr missbraucht werden, in dem Frauen keine Leidensverträge mehr abschließen oder ihrer Sexualität entsagen müssen, in dem politische, ökonomische und intellektuelle Aktivität keine spezifisch "weiblichen" Strategien mehr erfordert.

Gottfried Keller hat mit seiner literarischen Bilderflut ein ambivalentes Erbe hinterlassen, das zum Nachdenken und zum Lesen einlädt: Feiern wir im Jubiläumsjahr doch lieber große Texte als große Männer.

Frauke Berndt, 55, ist Professorin für Germanistik an der Universität Zürich.

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Quelle:
SZ vom 20.07.2019
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