Süddeutsche Zeitung

Gastbeitrag:Russland muss bleiben

Moskau droht, den Europarat zu verlassen. Das wäre für die Lage der Menschenrechte in Putins Reich verheerend, dei besetzte Krim und das Donbas eingeschlossen. Die Europäer sollten alles tun, damit es nicht so weit kommt.

Von Konstantin Baranov

Die Parlamentarische Versammlung des Europarats beginnt am 21. Januar 2019 mit seiner Wintersitzung. Mehr als vier Jahre sind vergangen, seitdem als Reaktion auf die Annexion der Krim und die Beteiligung Russlands am Konflikt im Donbas der russischen Delegation dort das Stimm- und Beteiligungsrecht entzogen wurde. Nun ist Russland nur noch einen Schritt davon entfernt, den Europarat ganz zu verlassen, entweder auf eigene Initiative oder durch einen Ausschluss, weil das Land einen Teil seiner Mitgliedsbeiträge nicht gezahlt hat. Seit einigen Monaten ist die Situation festgefahren. Weder die russischen Behörden noch ihre Kritiker in der Versammlung scheinen zu Kompromissen bereit zu sein.

Doch wer den Kreml so für sein aggressives Vorgehen in der Ukraine und andernorts bestrafen will, schießt übers Ziel hinaus. Nicht die russische Regierung, sondern die russische Zivilgesellschaft würde am stärksten unter dem Austritt des Landes aus dem Europarat leiden. Seit 1996, als Russland der Organisation beitrat, ist der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) für Millionen Bewohner des Landes die letzte Hoffnung auf Gerechtigkeit gewesen, die sie in Russland nicht erfahren konnten. Die Urteile des EGMR haben spürbare positive Auswirkungen auf russische Gesetze und die Gerichtspraxis in Russland, obwohl ihre Umsetzung bei Weitem nicht perfekt ist und nur in etwa einem Drittel der Fälle überhaupt erfolgt. Sollte Russland den Europarat verlassen, wird sich die Menschenrechtslage im Land dramatisch verschlechtern, es droht sogar eine zügige Wiedereinführung der Todesstrafe.

Die Folgen gingen weit über Russland hinaus. Ein solcher Schritt würde weder die Frage der annektierten Krim lösen noch zu einer Beendigung des Konflikts im Donbas beitragen. Im Gegenteil - der Austritt Russlands würde die Bedingungen für ukrainische und andere Staatsbürger verschlechtern, die in russischen Gefängnissen festgehalten werden und unfaire Gerichtsprozesse erleben, Folter und entwürdigende Behandlung. Der Gerichtshof würde den Bewohnern der von Russland kontrollierten Krim seinen Beistand verweigern. Er würde den geltenden Schutz vor Abschiebung aufheben, den derzeit Flüchtlinge und Asylsuchende aus Syrien, Afghanistan und Zentralasien genießen. Schließlich könnte der Ausschluss eines Mitgliedstaates aus dem Europarat weitere Staaten dazu bewegen, den Rat zu verlassen, und Belarus von seinem Versuch abbringen, Mitglied zu werden.

Die wichtigste Frage ist derzeit, ob es möglich ist, eine politische Lösung für die Krise zu finden, die es erlauben würde, dass Russland Mitglied in Europarat bleibt und so der bestehende europäische Rechtsrahmen zum Schutz von Menschenrechten, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit bewahrt wird - ohne die Integrität des Rates und seine Grundwerte zu untergraben. Natürlich darf sich der Europarat nicht erpressen lassen und sämtliche Einschränkungen für die russische Delegation aufheben. Neben den Bemühungen um eine vernünftige Lösung, damit Russland in der Organisation bleibt, muss der Europarat klar auf die Verstöße der russischen Behörden gegen internationales Recht reagieren. Auch muss der Rat gestärkt und ein Missbrauch dieses Instruments durch undemokratische Staaten verhindert werden.

Die Drohungen russischer Politiker, den Europarat zu verlassen, sind kein reines Manöver um ihre Verhandlungsmasse zu vergrößern. Es gibt einflussreiche Personen im russischen politischen Establishment, die eine Politik der Isolation verfolgen und möchten, dass das Land aus dem Rat aussteigt. Wenn bis zum Frühjahr keine akzeptable Lösung gefunden wird, werden die russischen Behörden wahrscheinlich nicht auf die "entwürdigende" Diskussion über einen Ausschluss beim Treffen des Ministerkomitees im Juni warten, sondern zuvor selber den Austritt bekannt geben.

Ein Austritt Russlands aus dem Europarat würde nicht den Menschenrechtsverletzungen Einhalt gebieten; es würde nicht das Abrutschen des Landes in ein autoritäres Regime aufhalten oder das aggressive Verhalten des Kremls auf der internationalen Bühne unterbinden. Ein solcher Schritt wäre stattdessen das Ende des mühevollen Ringens der russischen Zivilgesellschaft bedeuten, die versucht, Russland auf Grundlage der gemeinsamen Normen und Werte Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Respekt vor Menschenrechten zu einem wichtigen Teil Europas zu machen. Der Austritt würde eine große Region in Europa auf Jahrzehnte in eine rechtliche Grauzone verwandeln.

Der russische Menschenrechtsanwalt Konstantin Baranov, 35, ist Experte der Advocacy-Gruppe des EU-Russia Civil Society Forums.

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SZ vom 12.01.2019
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