Gastbeitrag:Risikofaktor Angst

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Es muss alles getan werden, um deutsche Kliniken auf Covid-19-Patienten vorzubereiten. Doch wenn Menschen mit anderen Leiden sich nicht mehr ins Krankenhaus trauen, wäre der gesundheitliche Schaden womöglich noch verheerender als die Pandemie.

Von Jens Deerberg-Wittram

Unwahrscheinliche Ereignisse, die verheerende Folgen für viele Menschen haben, werden in der Risikoforschung als dread risks bezeichnet. Beispiele für solche Horrorrisiken sind das Erdbeben in Haiti, der Atomunfall von Fukushima und der Anschlag auf die Zwillingstürme des World Trade Center im September 2001. Im Unterschied zu herkömmlichen Risiken wie Tabakrauchen oder Fallschirmspringen sind Horrorrisiken durch drei Eigenschaften bestimmt. Sie können eine ganze Gruppe von Menschen auf einen Schlag töten, sie entziehen sich der menschlichen Kontrolle, und sie führen schreckliche Bilder vor Augen, die das Schreckensszenario immer wieder in Erinnerung rufen.

Psychologen haben beobachtet, dass der plötzliche Tod vieler Menschen aufgrund eines unerwarteten und grauenhaften Ereignisses oft besondere Ängste und damit verbunden extreme Reaktionen der Risikovermeidung auslöst. Der verzweifelte Versuch der Risikovermeidung kann dabei manchmal schlimmere Folgen haben als das ursprünglich auslösende Ereignis selbst.

So wies der Risikoforscher Gerd Gigerenzer darauf hin, dass im Zuge der Anschläge am 11. September 2001 viele US-Amerikaner über Monate hinweg Inlandsflüge mieden und stattdessen längere Strecken mit dem Auto zurücklegten. Die fürchterlichen Bilder der in die Hochhaustürme einschlagenden Flugzeuge und das Gefühl der Hilflosigkeit bei einer Entführung in der Luft führten bei vielen Menschen zu irrationalen Ängsten, welche die Nutzung sicherer Verkehrsflugzeuge für sie für lange Zeit unerträglich machten. In der Konsequenz stieg die Zahl der Verkehrstoten in den USA im Jahr nach den Anschlägen an. Etwa 1600 Menschen starben auf diese Weise durch Autounfälle bei dem Versuch, dem Horrorrisiko Flugzeugentführung zu entgehen, also etwa sechsmal so viele wie die 256 Toten in den entführten vier Flugzeugen vom September 2001.

Die aktuelle Pandemie könnte sich zum dread risk entwickeln. Sie kam unerwartet, und sie wird viele Menschen weltweit das Leben kosten. Die furchtbaren Bilder der überfüllten Krankenhäuser Norditaliens, die Berichte von fehlenden Beatmungsgeräten und nicht zuletzt die sich ständig aktualisierenden Zahlenkolonnen infizierter, hospitalisierter und beatmeter Covid-19-Patienten berühren alle, und sie bewegen Politiker zu einer abrupten, historisch einzigartigen Umgestaltung des Gesundheitssystems.

Dabei steht die Schaffung zusätzlicher Beatmungsplätze für schwerst kranke Covid-19-Patienten im Vordergrund. Seit Wochen fordern Fachleute mindestens eine Verdopplung der Beatmungsplätze in deutschen Krankenhäusern, die vor allem Covid-19-Patienten zur Verfügung stehen sollen. Prämien für zusätzlich geschaffene Beatmungsplätze und Großaufträge der Bundesregierung bei Medizintechnikunternehmen haben die Zahl von Intensivbetten für Corona-Patienten deutlich steigen lassen. Derzeit ist erst knapp jedes zehnte Bett mit einem beatmeten Covid 19-Patienten belegt. Deutschland rüstet sich für eine Welle von vielen Tausend Patienten, und es ist zu hoffen, dass sich die prognostizierten Patientenzahlen und der Bettenaufbau als richtig erweisen werden.

Aber die aktuelle Konzentration auf die Corona-Krise hat möglicherweise einen Preis, der über das Wirtschaftliche weit hinausgehen könnte. Die Bilder sterbender Covid-19-Patienten und die regelmäßigen Hinweise auf die Ansteckungsgefahr und Bedrohung vor allem älterer Menschen verunsichern die Bevölkerung. Deshalb trauen sich gerade ältere Menschen bei ernsten Symptomen nicht mehr in die Kliniken; auch manche Hausärzte vermeiden Überweisungen in Krankenhäuser.

Diese Entwicklung beobachten wir seit etwa vier Wochen auch in Rosenheim. Der Ort ist aufgrund seiner Nähe zu den Risikogebieten Südtirols und Österreichs seit Anfang März eine der von der Corona-Krise am stärksten betroffenen Gegenden Deutschlands. Die Covid-19-Patienten werden von den übrigen Kranken räumlich getrennt versorgt, und die Notfall- und Schwerstkrankenversorgung wird uneingeschränkt weiterhin angeboten. Und trotzdem sind Patienten mit akuten Herzbeschwerden in Kliniken seit Beginn der Corona-Krise um fast die Hälfte zurückgegangen. Auch chirurgische Notfälle wie akute Blinddarmentzündungen und Darminfarkte kommen nur noch halb so oft. Diese Notfallpatienten gehen nicht in Nachbarkrankenhäuser, sondern sie bleiben aus Angst vor einer Ansteckung trotz Symptomen zu Hause.

Ähnliches berichten auch Kliniken aus anderen Teilen Deutschlands wie zum Beispiel die Berliner Charité oder das Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, die immer weniger Patienten mit Herzinfarkten und Schlaganfällen sehen. Wenn aber Tausende Notfallpatienten und Schwerstkranke die Krankenhäuser meiden, werden wir als Gesellschaft einen hohen Preis zahlen. Von 270 000 Schlaganfall- und 220 000 Herzinfarktpatienten pro Jahr in Deutschland sterben normalerweise ungefähr zusammen 100 000 Menschen. Diese Zahl kann sich in der Corona-Krise deutlich erhöhen, wenn die Angst die Patienten weiter von den Krankenhäusern fernhält. Ähnlich wie nach dem 11. September 2001 kann der verzweifelte Versuch der Risikovermeidung auch jetzt schlimme Folgen haben. Diese werden bisher noch nicht ausreichend bedacht.

Wir wissen nicht, wie lange die Corona-Krise noch dauern wird und wie viele Menschen in Deutschland an Covid-19 sterben werden. Deshalb ist es richtig, alles zu tun, was die Verbreitung der Krankheit eindämmt und Kliniken auf die Versorgung der Covid-Patienten vorbereitet. Wir können aber bereits absehen, dass nur ein geringer Prozentsatz der Erkrankten einen Beatmungsplatz brauchen wird. Und wir müssen leider davon ausgehen, dass wir von den beatmeten Covid-Patienten nur einen Teil werden retten können.

Wir dürfen nicht aus Angst vor dem Virus den Blick auf die Versorgung der Gesamtbevölkerung verlieren. Es wäre ein fatales Ergebnis der aktuellen Bemühungen, wenn am Ende mehr Schwerkranke und Notfallpatienten sterben, als Covid-19-Patienten gerettet werden können.

Jens Deerberg-Wittram ist Geschäftsführer der Ro Med Kliniken, Rosenheim.

© SZ vom 11.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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