Gastbeitrag:Recht auf würdigen Abschied

Lesezeit: 4 Min.

Deutschland streitet über die Sterbehilfe und klammert dabei die drängendste Frage aus.

Von Manfred Alberti

Die Debatte um Sterbehilfe konzentriert sich bisher auf Menschen, die sterbenskrank sind, aber bei vollem Bewusstsein selbst entscheiden können, ob sie ihrem Leben ein Ende setzen und dazu Hilfe in Anspruch nehmen möchten. Nirgendwo werden jene häufig sehr alten Menschen erwähnt, die fast ohne Bewusstsein monate- oder jahrelang in ihrem Bett liegen, kaum noch Äußerungen von sich geben können, aber durch künstliche Ernährung, Herzschrittmacher oder Medikamente am Leben erhalten werden. Da sie keine Patientenverfügung unterzeichnet und keine Kinder oder Betreuer bevollmächtigt haben, die über einen Behandlungsabbruch entscheiden könnten, werden sie am Leben erhalten, solange nicht eine zusätzliche Erkrankung ihrem Leben ein Ende setzt.

Lebenserhaltung ohne Aussicht auf Besserung ist eine Quälerei

Aber genau solche Leidenswege, die viele Menschen aus ihrer näheren Umgebung kennen, prägen die verbreitete Angst vor einem unentrinnbaren Leiden am Lebensende. Spricht man mit sehr alten Menschen über ihren Weg zum Tod, so drücken viele ihre große Angst vor diesem passiven Erleidenmüssen aus. Sie möchten nicht an Schläuche gelegt und künstlich ernährt werden, sondern nur in Ruhe und Frieden sterben dürfen.

Indem die Sterbehilfedebatte sich völlig auf einwilligungs- und entscheidungsfähige Menschen konzentriert, umgeht sie die entscheidende Frage: Wie kann man sehr alten Menschen einen menschenwürdigen Tod ohne lange Quälerei ermöglichen? Die momentane Rechtslage erfordert, dass der Betroffene frühzeitig eine Patientenverfügung ausfüllt, die den Stopp lebenserhaltender Maßnahmen einschließt. Alternativ können auch Verwandte, Bekannte oder Betreuer in einer Vollmacht ermächtigt werden, über lebenserhaltende Maßnahmen zu entscheiden. Fehlen solche Dokumente, muss der alte Mensch warten, bis eine Krankheit sein Leben beschließt.

Dieser Zwang zum Erdulden ist für Patienten und Angehörige oft kaum zu ertragen: Man muss hilflos mit ansehen, wie jemand ohne jede Hoffnung auf grundsätzliche Änderung monate- oder jahrelang leidet und körperlich und geistig immer mehr abbaut. Palliativmedizin und Hospizarbeit sind ein Segen, um Schmerzen und Leiden zu lindern. Aber das Hauptproblem kann auch ausgebaute Palliativarbeit nicht lösen: Hilflos zu einem manchmal sehr langen Weg zum Tode gezwungen zu sein. Der Segen von Herzschrittmacher, künstlicher Ernährung und herausragenden Medikamenten wird jetzt als Fluch erlebt: Er verhindert menschenwürdiges Sterben.

Dabei sind viele Menschen in sehr hohem Alter lebenssatt und wünschen im Falle einer Krankheit vor allem einen schnellen und schmerzlosen Tod. Ihn empfinden sie positiv als das natürliche Ende ihres langen Lebens: In ihrem Gefühl haben sie ein Recht auf schnellen Tod, ein Menschenrecht auf würdigen Abschied. Jede ärztliche Lebensverlängerung ohne Aussicht auf grundlegende Besserung ist für sie ein ungewollter Eingriff.

Hier entsteht bei vielen Menschen der Wunsch nach lebensverkürzenden Maßnahmen: nach Abbruch künstlicher Ernährung, nach Ausschalten des Herzschrittmachers und nach Absetzen aller Medikamente. Hier dürfte die Ursache dafür liegen, dass die Mehrheit aller Deutschen Sterbehilfe befürwortet: als Mittel gegen einen erzwungenen langsamen Quältod.

Diese Selbstbestimmung am Lebensende hat nichts mit menschlicher Hybris zu tun, es ist einfach die Forderung nach einem Recht auf den eigenen, natürlichen Tod. Der Segen medizinischen Fortschritts verkehrt sich ins Gegenteil, wenn er das natürliche Sterben lange hinauszögert. Auf dieses Problem gibt keines der bis jetzt vorliegenden Positionspapiere der Parteien im Bundestag eine Antwort. Deshalb wird auch nach dem Gesetzgebungsverfahren im Herbst die Diskussion nicht beendet sein: Das Zentralproblem ist ungelöst.

Natürlich könnte jeder Mensch eine Patientenverfügung ausfüllen oder durch eine Vollmacht betreuende Menschen zum Abbruch von Behandlung und Ernährung ermächtigen. Aber ein solches bürokratisches Verfahren dürfte die Mehrheit alter Menschen überfordern und ist deshalb keine angemessene Lösung. Hier müsste der Bundestag andere Wege finden, die Angst und Not der Menschen ernst zu nehmen und ihnen zu helfen. Nur so wird die Debatte um Sterbehilfe eine gute Lösung finden.

Menschen müssen ein Recht haben auf einen natürlichen Lebensweg mit Geborenwerden, Wachsen, Blühen, Vergehen und Sterben. Medizinischer Fortschritt, bessere Lebensumstände und das Fehlen von Seuchen und Krieg haben diesen Lebenszyklus verlängert, aber der Zyklus bleibt der gleiche. So gerne Menschen Hilfe von Medizin und Pharmazie annehmen, so sehr verabscheuen sie das Durchbrechen des natürlichen Weges, wenn im hohen Alter der naturgemäße Weg zum Tod durch Pharmazie, Medizin oder künstliche Ernährung verhindert wird.

Lebenssatt ruhig sterben zu können, wird seit Jahrtausenden als Geschenk empfunden. Dies Geschenk einem Menschen in hohem Alter zu nehmen, weil niemand Maschinen oder künstliche Ernährung abstellen darf oder will, ist nicht gerecht. Ein Rechtsstaat kann nicht das Gewähren dieses Geschenkes davon abhängig machen, ob jemand imstande war, eine Patientenverfügung oder eine Vollmacht zu unterschreiben. Es muss einen Weg geben, alten Menschen trotz fehlender Einwilligungserklärung das Recht auf menschenwürdiges Sterben zu ermöglichen.

In manchen Kliniken hat man diesen Weg gefunden, indem man die fehlende eigene Einwilligung durch den Beschluss einer Ethikkommission ersetzt, wenn es offensichtlich im Interesse des alten Patienten liegt, dass sein Lebensweg durch Abstellen der Ernährung oder anderer Apparate bald beendet wird. Diesen Weg könnte der Bundestag für ältere Patienten ohne Patientenverfügung oder Vollmacht eröffnen, indem er allen Menschen und ihren Angehörigen einen Anspruch auf Beurteilung durch eine Ethikkommission gesetzlich zugesteht. Dazu müssten solche Kommissionen flächendeckend für alle stationär und privat untergebrachten Patienten eingerichtet werden. Das Recht auf Anrufung einer solchen Kommission gäbe den Angehörigen, Pflegern oder Ärzten nicht mehr einwilligungsfähiger Patienten eine Möglichkeit, aktiv zu handeln. Sie müssten nicht mehr passiv einen langen Weg zum Sterben miterleiden, nur weil die eigene Einwilligung des Patienten zum Abbruch seiner Behandlung nicht vorliegt.

Eine solche gesetzliche Regelung würde viel Zündstoff aus dem Thema Sterbehilfe nehmen: Angehörige, Ärzte und Pflegekräfte wären handlungsfähig, ohne den Weg zu direkter Sterbehilfe eröffnen zu müssen. Diese Regelung würde vielen Menschen große Angst nehmen, weil man ihnen sagen kann: "Niemand wird einen lange Sterbeweg erleiden müssen. Es gibt einen Ausweg." Damit würde die Sterbehilfedebatte geerdet: Die Angst vieler Menschen würde ernst genommen und eine Lösung angeboten. Sterbehilfe braucht dann kein alter Mensch mehr, wenn nach Behandlungsabbruch, nach dem Absetzen von Medikamenten und künstlicher Ernährung der Weg zum Tod palliativ begleitet sein Ende gefunden hat.

Manfred Alberti , 66, war bis zu seiner Pensionierung 35 Jahre lang Pfarrer in der evangelischen Kirchengemeinde Wuppertal-Sonnborn.

© SZ vom 22.08.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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