Gastbeitrag:Operation am Herzen der Demokratie

Der Bundestag ist übergroß und bedarf dringend der Verkleinerung. Wie gelingt diese mit möglichst geringem Aufwand?

Von Hans Herbert von Arnim

Parlamente sind das Herz der repräsentativen Demokratie. Sie werden derzeit aber doppelt herausgefordert: im Ausland von autoritären Regimen; im Inland auch von rechten Parteien. In dieser Lage erscheint es besonders wichtig, dass sie effektiv arbeiten können und nicht der Eindruck entsteht, nur mit direkter Demokratie ließen sich nötige Reformen durchsetzen. Der Bundestag besteht derzeit aus 709 Mitgliedern, das sind 111 über den Durst, das Wahlgesetz sieht eine Normalgröße von lediglich 598 Abgeordneten vor. Im Jahr 2021 könnten es, wenn nichts geschieht, sogar über 800 werden.

Die von Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble geleitete Kommission scheiterte im April an ihrer Aufgabe, ein neues Wahlgesetz vorzuschlagen. Deshalb haben kürzlich über hundert Staatsrechtslehrerinnen und Staatsrechtslehrer an den Bundestag appelliert, unverzüglich Reformfähigkeit zu demonstrieren, damit das Parlament nach der nächsten Wahl wieder zum Normalmaß zurückfindet. Sonst könne man meinen, vielen Abgeordneten sei das eigene Hemd wichtiger als der Gemeinwohlrock, wie es das Schreiben formuliert. Der demokratischen Legitimation der Republik wäre das sicher abträglich.

Was den Bundestag so aufbläht, sind die 46 Überhangmandate der CDU und die 65 Ausgleichsmandate, die die anderen Parlamentsparteien erhalten. Weil inzwischen acht Parteien im Bundestag vertreten sind und viele von ihnen den ehemaligen Volksparteien Zweitstimmen "wegnehmen", die Union aber immer noch groß genug ist, um die meisten Wahlkreise mit relativer Mehrheit zu gewinnen, erlangen CDU und CSU - jedenfalls im Westen - das Gros der Wahlkreise. Kompensiert werden die Überhangmandate durch Ausgleichsmandate, die den Sinn haben, die Gesamtzahl der Mandate wieder dem Zweitstimmenergebnis proportional anzugleichen.

Wer profitiert von der Übergröße? Sie hat zusätzlichen 111 Abgeordneten zu einem Mandat verholfen. Für viele würde das weitere Anwachsen des Bundestags die Chance auf Wiederwahl erhöhen. Die Parteien erhalten die Sonderabgaben, die Mandats- und Amtsträger an ihre Parteien zahlen, natürlich auch von den zusätzlichen Parlamentariern, die im Übrigen mit ihren vielen Mitarbeitern tagein, tagaus auch Parteiarbeit machen können. Die Subventionierung der Fraktionen steigt ebenfalls, weil sie an die Kopfzahl der Abgeordneten geknüpft ist.

Von SPD und Union gern gesehenen ist außerdem der Effekt, dass ihr Vertrauensverlust bei den Wählern sich nicht in Mandatsverlusten niederschlägt, sondern ihnen - trotz ihrer rasant abnehmenden Stimmenanteile - manchmal sogar mehr Sitze zufallen als zuvor.

Die Auswirkungen allerdings sind gewaltig: Die Überzahl an Abgeordneten beeinträchtigt die Funktionsfähigkeit des Parlaments. Zudem stellen die Steuergelder, die für Bezahlung und Unterbringung der zusätzlichen Abgeordneten und ihrer Mitarbeiter aufzuwenden sind, eine Form öffentlicher Verschwendung dar.

Noch sehr viel stärker aber fällt ins Gewicht, dass das Wahlrecht als wichtigste demokratische Äußerungsform des Bürgers völlig undurchschaubar geworden ist. Es führt zu Konsequenzen, die für die Wähler unkalkulierbar und unerwünscht sein können: Die 111 Zusatzmandate wurden 2017 alle über die Wahllisten der Parteien erworben. Zusammen mit den regulären 298 Wahlkreisabgeordneten sind also 409 Abgeordnete über starre Listen gewählt worden, und bei der nächsten Wahl könnten es noch deutlich mehr werden. Der Bürger weiß im Vorhinein nicht, ob er mit seinem Wahlverhalten Überhangmandate schafft und so möglicherweise zutiefst abgelehnte Abgeordnete ganz anderer Parteien mit Ausgleichsmandaten beglückt.

Um diese letztlich entdemokratisierenden Effekte ausgerechnet des Wahlrechts zu vermeiden und zur Größe von 598 Abgeordneten zurückzukehren, hat der Staatsrechtslehrer Hartmut Maurer vorgeschlagen, gleich ganz zur reinen Verhältniswahl überzugehen, allerdings mit offenen Listen, damit die Bürger ihre Abgeordneten wirklich auswählen können.

Scheut der Bundestag eine derart radikale Reform, müsste er wenigstens die Überhangmandate angehen, die Ausgangspunkt der Problematik sind. Eine Lösung läge darin, die Zahl der Wahlkreise zu reduzieren. Diese müssten, um Überhangmandate auch in Zukunft auszuschließen, von 299 auf 180 verringert und damit also erheblich vergrößert werden. Derartige Vorschläge haben allerdings den Nachteil, dass die Wahlkreise neu zugeschnitten werden müssten. Das ist in jedem Einzelfall interessenbefangen, kostet viel Aufwand und Zeit. Schon gar nicht wäre es sinnvoll, die Verringerung der Wahlkreise in zwei Stufen vorzunehmen, wie jüngst Thomas Oppermann, Vizepräsident des Bundestages, vorgeschlagen hat. Dann käme es in der darauf folgenden Wahlperiode noch einmal zu einem aufwendigen Neuzuschnitt aller Wahlkreise.

Es gibt allerdings auch Vorschläge in der aktuellen Debatte, um ohne Änderung der Wahlkreise zur Normalgröße zurückzukehren. Ein Weg wäre es, die Zahl der Direktmandate dadurch zu verringern, dass nur die erfolgreichsten Wahlkreiskandidaten ein Mandat erhalten. Nach einem anderen Vorschlag soll jede Partei in jedem Wahlkreis zwei Bewerber aufstellen. Der Wähler müsste sich also für einen Kandidaten der von ihm gewünschten Partei entscheiden. Ein weiterer Ansatz sieht vor, in jedem Wahlkreis zwei Kandidaten zu wählen. Diese Vorschläge könnten in verschiedenen Variationen aufgenommen werden. Sie hätten alle den Vorzug, dass es bei 298 Wahlkreisen und der Aufwand überschaubar bliebe.

Hans Herbert von Arnim, 80, ist Verfassungsrechtler und lehrt an der Universität Speyer.

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