Süddeutsche Zeitung

Gastbeitrag:Goldland

Das Amazonas-Gebiet galt lange als Brasiliens "grüne Hölle", die reiche Bodenschätze versprach. Inzwischen denken die meisten Brasilianer anders.

Wer von der brasilianischen Amazonas-Metropole Manaus mit dem Boot auf dem Rio Negro in die kleine Stadt Novo Airão fährt, gelangt in den Nationalpark Anavilhanas. Er ist 300 000 Hektar groß und ein Beispiel für die spektakuläre biologische Vielfalt Amazoniens. Es gibt dort eine enorme Bandbreite an Vegetation, die typisch ist für den tropischen Regenwald mit seinen Überschwemmungsgebieten. Dem Park kommt daher eine hohe strategische Bedeutung für den Naturschutz zu. Die Bäume stehen während der Regenzeit mit ihren Stämmen fast ganz im Wasser. Mit dem Boot fährt man dann zwischen den Baumkronen hindurch. Nur während der Trockenzeit kommen an die 400 Inseln zum Vorschein, die aus Sediment geformt sind, aus weißem Sand, den die Zuflüsse des Rio Negro aus den Berggebieten von Monte Roraima herabschwemmen.

Das Wasser im Park ist trübe wegen der Gerbstoffe und natürlichen Öle, die die Rinden absondern und die die Bäume vor Insekten und Parasiten schützen. Das führt dazu, dass es an den Ufern des Rio Negro keine Moskitos gibt, was besonders die Touristen schätzen. Unter den vielen Tierarten, die dort leben, sind zwei Arten von Süßwasserdelfinen, deren Lebensgewohnheiten Stoff für Mythen und Legenden liefern. Diese überreiche und sich ständig verändernde Landschaft hat das historische Bild der Brasilianer und auch das des Auslandes von Amazonien geformt. Ein unbekanntes Dorado, begehrt und gefürchtet.

Die brasilianische Militärdiktatur (1964 bis 1985) veränderte das Bild dieses gelobten Landes. Für sie war Amazonien die "grüne Hölle", die erobert werden musste, damit Brasilien Zugang zu seinen Reichtümern erhielt. Die beeindruckenden Fotografien von Sebastião Salgado aus den 80er-Jahren zeigten die menschliche und ökologische Tragödie, die durch die Goldsucher der Sierra Pelada ausgelöst wurde. Salgados Bilder trugen dazu bei, ein Bewusstsein zu schaffen, dass Amazonien in Gefahr war; demnächst wird er für sein Werk den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Der Archipel von Anavilhanas wurde 1981 noch von der Militärdiktatur unter Schutz gestellt. Heute steht er auf der Ramsar-Liste der international bedeutsamen Feuchtgebiete und ist Unesco-Weltnaturerbe.

Im Bewusstsein der Brasilianer ist dieses Gebiet längst nicht mehr das Goldland der Bodenschätze und Mineralien, es wird als nationales Naturerbe angesehen, dessen Biodiversität als besonders wertvoll einzuschätzen ist. Das versteht vor allem die junge Generation - Menschen wie Giovanna Palazzi, die 2007 mit nur 28 Jahren Managerin des Nationalparks wurde, weil sie sich in Amazonien verliebt hatte und beschloss, für den Schutz der Natur zu arbeiten. Heute ist sie in Brasília am biologischen Institut ICMBio tätig, das nach dem ermordeten Kautschuksammler und Naturschützer Chico Mendes benannt ist.

Das Handeln von Bolsonaro steht in krassem Widerspruch zur öffentlichen Meinung

Radikale Umweltschützer sind die Brasilianer deswegen noch nicht geworden. Aber sie haben begonnen, die biologische Vielfalt Amazoniens wertzuschätzen. Wer die Gegend als Tourist bereist, dem wird es ähnlich gehen; allerdings ist sie immer noch sehr unzugänglich. Auch ohne Amazonien je besucht zu haben, wünscht sich heute die Mehrheit der Brasilianer, dass das Gebiet geschützt wird. Eine aktuelle Umfrage des größten Meinungsforschungsinstituts Ibope hat ergeben, dass 88 Prozent der Brasilianer stolz sind auf Amazonien, 95 Prozent sind der Ansicht, dass der tropische Urwald geschützt werden muss. In jenem historischen Moment, in dem die Entwaldung zunimmt und die aus kriminellen Motiven gelegten Feuer große Flächen verwüsten, geben 94 Prozent der Befragten an, dass der tropische Urwald zur nationalen Identität Brasiliens gehört. Ebenfalls 94 Prozent stimmen der Aussage zu, dass Amazonien essenzielle Bedeutung für das Weltklima hat. In diesen Fragen besteht also größte Einigkeit.

87 Prozent glauben zwar auch, dass Amazonien wichtig ist für die wirtschaftliche Entwicklung; doch 96 Prozent wollen, dass der Präsident die Kontrollen verschärft, um Entwaldungen zu verhindern, und fordern, dass das brasilianische Parlament Verantwortung übernimmt im Kampf gegen illegale Rodung. Selbst unter den Anhängern Jair Bolsonaros gibt es eine klare Mehrheit, die eine Null-Toleranz-Politik gegenüber diesem Verbrechen verlangt.

Doch das Handeln der brasilianischen Regierung steht in krassem Widerspruch zur öffentlichen Meinung. Regierung und Gesellschaft haben sich voneinander entfremdet. Der Präsident hat eine Agenda, die ganz spezifischen Interessen folgt, nämlich denen von Bergwerksbesitzern und Agrarproduzenten.

Dazu kommt eine solide Minderheit von Anhängern, die fest an das Wertesystem dieses Präsidenten glauben. Bolsonaro hat eine autoritäre Mentalität, er will nicht alle Stimmen des Volkes hören, sondern nimmt nur die Meinung derer wahr, die denken wie er. Brasiliens Regierung hat erst auf internationalen und nationalen Druck hin begonnen, in Amazonien zu handeln, um die Brandrodungen, die queimadas, zu bekämpfen. Immerhin hat sich die brasilianische Exportwirtschaft gegen die nachlässige Umweltpolitik Bolsonaros gestellt. In die Enge getrieben, handelt der Präsident nun. Aber er handelt ohne Überzeugung.

Sérgio Abranches, 69, ist Soziologe und forscht zu Klimapolitik und der Entwaldung Amazoniens. 2018 erhielt er den Literaturpreis des brasilianischen PEN-Clubs. Übersetzung: Sebastian Schoepp

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Quelle:
SZ vom 11.10.2019
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