Süddeutsche Zeitung

Gastbeitrag:Frömmigkeiten

Der Protestantismus verliert hierzulande an Bedeutung, weltweit ist er eine aufstrebende Macht. Evangelikale und Wunderheiler treten auf, aber auch Sozialrevolutionäre.

Von Johann Hinrich Claussen

Ein neuartiger Kirchen-Streit beschäftigt gerade die Berliner Lokalpolitik. Die Neue Nazarethkirche im Wedding soll an eine evangelikale Gemeinde aus Brasilien verkauft werden. Bezirksbürgermeister Stephan von Dassel von den Grünen will dies verhindern. Die neugotische Kirche am Leopoldplatz wurde schon 1993 an die freikirchliche "Gemeinde Gottes" verkauft, nun will diese sie an die "Universalkirche des Königreichs Gottes" abgeben. Der Bürgermeister hat Bedenken wegen der Spendenpraxis dieser Gemeinde sowie der Nähe des Kirchenführers Edir Macedo zum brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro. Darf ein Politiker entscheiden, was eine gute oder schlechte evangelische Kirche ist und welche Art Protestantismus repräsentative Gebäude besitzen soll? Solche Fragen drängen sich plötzlich auf.

Hierzulande verliert der Protestantismus an Bedeutung, weltweit aber ist er eine aufstrebende Macht. Gebannt richten sich die Blicke derzeit auf Brasilien und die USA, wo Protestanten eine fatale Politik betreiben. Doch bilden diese nur den Bruchteil eines globalen Konglomerats aus vielfältigen Bewegungen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie in den europäischen Reformationen des 16. Jahrhunderts wurzeln: der lutherischen, reformierten und baptistischen. Es folgten: der Puritanismus des 17. und der Methodismus des 18. Jahrhunderts, die Pfingstbewegung, indigene Christentümer oder die fromme Gegenmoderne des 20. Jahrhunderts. Die Folge ist eine beinahe unendliche Ausdifferenzierung des Protestantismus heute. Sie lässt sich kaum auf einen Begriff bringen. Etiketten wie "evangelikal", "charismatisch" oder "fundamentalistisch" klingen eher ratlos.

Vielleicht hilft es bei einer ersten Annäherung, mit der Unterscheidung von "oben" und "unten" zu arbeiten. Die neuartigen Protestantismen sind auch eine Graswurzelbewegung. Besonders in Afrika zeigt sich das. Dort hat die christliche Mission eben nicht dazu geführt, dass die Afrikaner "europäisiert" wurden. Im Gegenteil, das Christentum wurde "afrikanisiert". Afrikaner haben Impulse protestantischer Missionare aufgenommen und verwandelt. Die Kimbanguisten im Kongo, die Zionskirchen in Südafrika oder die Wohlstandsevangelisten in Nigeria haben den Protestantismus pluralisiert und globalisiert. Ähnliches lässt sich über Lateinamerika oder Südkorea sagen.

Wenn Deutsche überhaupt etwas davon wahrnehmen, sticht ihnen als Erstes der Wunderglaube ins Auge. In der Tat spielen Heilungen und materielle Verheißungen eine große Rolle. Doch was bleibt Menschen, die keinen Zugang zu guter Medizin und keine Perspektive auf Sicherheit haben, anderes übrig, als auf Wunder zu hoffen? Vor allem sollte man anerkennen, wie der Glaube diese Menschen aufrichtet. In den Augen der "Welt", besonders der weißen, gelten sie wenig. Vor ihrem Gott jedoch können sie sich als Auserwählte verstehen. Zudem bindet ihr Glaube sie zu Gemeinschaften, von denen sie in Notfällen eher Hilfe erwarten können als von einem abwesenden Staat oder westlichen Hilfsorganisationen. Und die rigide Moral, die sie befolgen müssen, mag einigen helfen, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Es wäre billig, sich als deutscher Wohlstandsbürger über diesen Protestantismus von unten zu mokieren und nur das Rückständige oder Bizarre in den Blick zu nehmen. Er ist ernst zu nehmen - nicht zuletzt, weil er durch Einwanderer längst in Deutschland angekommen ist.

Aber natürlich ist die Machtfrage zu stellen. Schon der Soziologe Max Weber wusste, dass keine Herrschaft so hart ist wie die charismatische. Denn einen vom Geist Gottes erfüllten Anführer darf niemand kritisieren. Deshalb ist der Machtmissbrauch - emotional, sexuell, finanziell - hier eine nahe Versuchung. Besonders bedrohlich wird der charismatische Protestantismus, wenn er nach der wirtschaftlichen und politischen Macht greift. Zurzeit lässt sich in Brasilien beobachten, wie Präsident Bolsonaro, welcher der "Assembleia de Deus" nahesteht, Schneisen der Verwüstung durch das Land zieht. Oder man denke an die unheilige Allianz zwischen US-Präsident Donald Trump und überfrommen Predigern.

Deutschland ist davon weit entfernt. Aber im Umfeld der AfD gibt es nicht nur rechtsradikale Kirchenfeinde, sondern ebenfalls evangelikale Christen. Auch hier sollten liberale Protestanten es sich nicht einfach machen. Wer aus einer christlichen Grundhaltung für eine offene Gesellschaft eintritt, muss engagiert streiten, gut argumentieren und nicht zuletzt eine religiöse Alternative vorstellen, nämlich eine ehrliche, aufgeklärte, lebendige Frömmigkeit.

Der politische Protestantismus von rechts stellt eine Gefahr dar, aber man sollte sich von ihm nicht blenden lassen. Trump-Anhänger oder Bolsonaro mögen die Schlagzeilen bestimmen, das Ganze des Evangelikalismus repräsentieren sie nicht. Dieser ist als globale Bewegung vielfältig. Längst gibt es auch Linksevangelikale, die unter Mission nicht nur die Rettung der Seele verstehen, sondern auch konkrete Sozialarbeit vor Ort sowie die prophetische Kritik an extremer Armut, schreiender Ungerechtigkeit und beängstigender Umweltzerstörung. Dafür steht etwa das Netzwerk "Micah Global".

Schließlich gibt es eine kritische Gegenbewegung aus den eigenen Reihen. In den USA verlassen immer mehr junge Menschen die evangelikalen Gemeinden, in denen sie aufgewachsen sind. Im Zorn und unter großen Schmerzen. Als Kinder und Jugendliche haben viele dort Missbrauch erlebt, nicht unbedingt sexueller Art, wohl aber "spiritual abuse": Unterdrückung, Beschämung, Manipulation. Mit der Frömmigkeit ihrer Herkunft haben sie gebrochen, sich aber eine Art von Glauben bewahrt. Doch wie sollen sie sich nennen? Die Wörter "evangelical" oder "Christian" sind für sie vergiftet. Deshalb bezeichnen sich die meisten als "Post-Evangelicals". Als lose Bewegung, die sich vor allem in sozialen Netzwerken organisiert, suchen sie nach einer anderen Frömmigkeit: frei, tolerant, sozial und ökologisch engagiert. Das klingt vertraut, denn auch in Deutschland gibt es viele Menschen, die sich als protestantische Post-Protestanten verstehen, auch wenn ihnen dieser Begriff unbekannt ist - was eben zeigt, wie wenig vorschnelle Urteile in Glaubensfragen nützen.

Johann Hinrich Claussen, 55, ist Kulturbeauftragter der Evangelischen Kirche in Deutschland.

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SZ vom 06.09.2019
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