Süddeutsche Zeitung

Gastbeitrag:Frei vom Zweck

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Der Sonntagsgottesdienst ist Pflicht! Mit solchen Sätzen hat die katholische Kirche die Menschen fortgetrieben. Doch Religion hat nichts mit Leistung zu tun - im Gegenteil. Die Kirchen müssen sich als Orte des Zwecklosen begreifen lernen.

Von Rainer Maria Schießler

Es gibt ein Wort, das einen aufschrecken lassen sollte: Freizeitindustrie. Auch die freie Zeit muss also produktiv gemacht werden und zweckdienlich sein; das Hochleistungsprinzip gilt auch fürs Nichtstun. Menschen suchen nach dem Nutzen ihrer Handlungen, das ist nur rational: Was bringt das, wozu führt das? Doch wenn sich die Frage nach dem Zweck verselbständigt und es nur noch um Ergebnis, Profit, Gewinn geht - dann werden die Räume des Zweckfreien knapp.

Menschen brauchen aber zweckfreie Räume, um Mensch bleiben zu können. Sie brauchen Kunst, Musik, Literatur; sie brauchen den Widersinn der Liebe, die ohne Beweise existiert und oft bar jeglicher Vernunft entsteht. Und sie brauchen die Religion. Im rationalen Sinne ist sie zwecklos. Es gibt keinen Beweis, dass Beten hilft, dass es eine Wirklichkeit jenseits dieser Welt gibt. Glauben und Beten - was bringt das schon? Gerade das aber macht in einer modernen und säkularisierten Welt die Stärke der christlichen Religion aus: Sie entzieht sich der innerweltlichen Verzweckung. Sie stellt die Herrschaft des Nützlichkeitsdenkens und die Vergöttlichung des Leistungsprinzips infrage. Sie wird dadurch zu einer Kraft der Freiheit.

Als katholischer Gemeindepfarrer sage ich: Die derzeitigen Probleme der christlichen Kirchen kommen auch daher, dass sie dieser Freiheitskraft bis heute misstrauen - und stattdessen religiöses Leistungsdenken schätzen. Die Sonntagspflicht zum Beispiel, auf der die katholische Kirche beharrt, hat dazu geführt, dass Gläubige die Gottesdienste besucht und ihre Gebete in der festen Gewissheit verrichtet haben, dass so etwas für sie herausspringt: Erfolg im Beruf, gute Prüfungsergebnisse, Glück in der Partnerschaft - und wenn das ausbleibt, dann wenigstens, sozusagen als aufgeschobener Lohn, ein glückliches Jenseits. Auch der Glaube musste einem Zweck dienen, ein Ergebnis haben.

So haben wir konsequent unsere Kirchen geleert. Denn der Gläubige von heute ist frei und zwanglos - endlich. Niemand kann ihn mehr zum Glauben oder religiösen Tun verdonnern, schon gar nicht mehr mit Angst. Das ist auch gut so - für alle, die ihre Kirche offen und transparent gestalten wollen. Die Kirchen befinden sich nicht nur im freien Fall, sondern auch im freien Wettbewerb.

Das kann auch die Kirchen vom alten Denken befreien. Sie müssen die Menschen gewinnen lernen, mit Gottesdiensten, die mehr sind als Zweckveranstaltungen, bei denen man einfach da sein darf, ob man nun beten mag oder nicht glauben kann oder den Glauben verloren hat. Die Kirchengemeinden müssen zu Orten werden, wo Menschen sein können, was sie sind und wie sie sind, mit ihren Vorzügen und Abgründen, ihren guten Taten und ihrem Versagen - ohne dass sie nun ihr Heil erwirtschaften müssen: Kerzen und Gebete bringen keine Treupunkte.

Das muss die Botschaft der Kirchen sein: Wir bieten Räume des Zwecklosen, des Menschseins, weil Gott die Menschen liebt. Glauben ist zweckloseste Tun des Menschen, es ist pures Vertrauen ohne jegliche Absicherung. Ich begrüße immer mal wieder meine Gottesdienstbesucher: "Willkommen in der zwecklosesten Veranstaltung, die es gibt. Sie müssen nichts tun, dürfen nur hier sein!" Und viele kommen gerade deshalb wieder.

Rainer Maria Schießler, 58, ist katholischer Pfarrer in der Münchner Innenstadt

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SZ vom 03.11.2018
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