Gastbeitrag:Eine Stimme pro Wähler

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Wegen Überhang- und Ausgleichsmandaten wird der Bundestag immer größer. Es ist höchste Zeit, das zu ändern.

Von Dietrich Thränhardt

Von Wahl zu Wahl wird der Bundestag größer. Für 2021 werden 800 Abgeordnete prognostiziert. Der Grund sind die schwindenden Stimmenanteile der großen Parteien. CDU/CSU gewinnen nach wie vor die meisten Stimmkreise, sind aber bei den Zweitstimmen schwächer. So entstehen "Überhangmandate" und diese werden für die anderen Parteien durch "Ausgleichsmandate" kompensiert. Der frühere Bundestagspräsident Norbert Lammert ist mit seinen Regelungsversuchen gescheitert, ebenso geht es jetzt Wolfgang Schäuble.

Die kleineren Parteien FDP, Grüne und Linke haben sich auf einen gemeinsamen Gesetzentwurf geeinigt, mit dem die Zahl der Wahlkreise von 299 auf 250 verringert werden soll. Die Union lehnt das mit dem Argument ab, es vermindere den Kontakt der Abgeordneten mit den Wählern. Das ist zwar ein interessengeleitetes Argument, aber nicht falsch. Der Gegenvorschlag von CDU und CSU zielt darauf ab, den Verhältnisausgleich für die Überhangmandate einzuschränken. CDU und CSU könnten dann mit einer Minderheit der Stimmen eine Mehrheit der Sitze erreichen, wie das regelmäßig in England geschieht. Das lehnen die anderen Parteien als Verfälschung des Wählerwillens ab. Eine Einigung ist dringend, denn die Wahlvorbereitungen für 2021 stehen an.

Es gibt eine einfache Lösung: Statt Erst- und Zweitstimme nur noch eine Stimme in einem Wahlkreis. Seit 1953 haben wir ein personalisiertes Verhältniswahlrecht mit einer Verbindung von Direktwahl in Wahlkreisen und Verhältnisausgleich nach Parteianteilen. Das ist ein bewährtes System. Belastet war es aber von Anfang an durch die Einführung von zwei getrennten Stimmen, die für unterschiedliche Parteien abgegeben werden können. Dieses Splitting-System wurde 1953 als Kompromiss eingeführt, auch damals in einer Verbindung von Argumenten und Eigeninteressen der Parteien. Es brachte der Union die Wahlkreise und ihren kleinen Koalitionspartnern über die "Zweitstimmen" Verhältnismandate. Das System war darauf ausgelegt, zusammen mehr von dem Kuchen zu bekommen. Ein Teil der Koalitionswähler würde die Stimmen "splitten" und dadurch würden sie doppelt wirksam werden.

Das Stimmen-Splitting schadet der demokratischen Klarheit und Ehrlichkeit

Anfangs war das System wegen seines verzerrenden Potenzials umstritten. Aber über die Jahrzehnte gewöhnte man sich daran, und das Zweistimmenwahlrecht wurde zur deutschen Tradition. Die neuen Länder übernahmen es 1990, und die FDP setzte es 2007 auch für die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen durch, wo bis dahin mit einer Stimme gewählt worden war. Nachdem in den ersten Jahrzehnten CDU/CSU und FDP profitiert hatten, half es später auch anderen Parteien zu Erfolgen beim taktischen Wahlverhalten. Nicht nur die FDP, auch die Grünen warben um die "Zweitstimme". Befragungen zeigten immer wieder, dass viele Wähler die Zweitstimme als zweitrangige Stimme ansahen, obwohl sie für die Anteile der Parteien im Bundestag entscheidend ist. Die Medien informierten vor Bundestagswahlen oft darüber, aber anschließend geriet die Gewichtung wieder in Vergessenheit.

Vor allem aber führt die Diskrepanz zwischen Erst- und Zweitstimme zur Aufblähung des Bundestags. 2017 bekam die CSU in Bayern 44,2 Prozent der Erststimmen, die anderen Parteien, die in den Bundestag einzogen, erreichten zusammen 44,1 Prozent. Angesichts dieses Gleichstands wäre also kein Überhangmandat entstanden, auch wenn die CSU alle Wahlkreise gewann. Weil die CSU aber bei den Zweitstimmen nur 38,8 Prozent erreichte, entstand eine Diskrepanz von 5,4 Prozent. Das führte zu sieben CSU-Überhangmandaten und entsprechenden Ausgleichsmandaten für die anderen Parteien. Insgesamt entstanden 2017 in Deutschland 46 Überhangmandate und 65 Ausgleichsmandate.

In künftigen Wahlen würden die Effekte noch gravierender sein. Der Bundestag würde größer werden und die Verzerrungen zwischen Erst- und Zweitstimmenergebnissen noch stärker ins Gewicht fallen. Es ist Zeit, das System abzuschaffen. Es ist in der Absicht entstanden, Wahlergebnisse für die Regierungsparteien von 1953 zu optimieren. Mehrere Male ist es modifiziert worden, um absurde Effekte zu beseitigen. In speziellen Konstellationen kann ein kleiner Stimmenzuwachs zu einem Mandatsverlust führen ("negatives Stimmengewicht"), was vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurde, aber auch nach den Änderungen möglich bleibt. Das Splitting schadet der demokratischen Klarheit und Ehrlichkeit, denn es verzerrt das Wahlergebnis. Für jede Wählerin und für jeden Wähler sollte es eine und nur eine Stimme geben und nicht nur für einige Splitter im Effekt zwei.

Dietrich Thränhardt ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Münster.

© SZ vom 22.02.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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