Süddeutsche Zeitung

Syrien:Krieg im Kopf der Kinder

In 20 Monaten wurden 389 Kinder von Scharfschützen in Aleppo getötet, Hunderte bleiben für immer Verletzte. Was stellt der Krieg mit Kindern an?

Von Abir Pamuk

Ich klammere mich mit aller Macht an die schönen Erinnerungen aus der Vergangenheit, wenn mich der Schrecken mal wieder verfolgt. Die Gedanken an die Zeit mit Familie und Freunden ist dann mein innerer Zufluchtsort. Das Wichtigste, was ich besitze. Das Syrien, das für Tradition, Lebenskultur, Gastfreundschaft und Unbeschwertheit steht, scheint nicht mehr zu existieren. Die Normalität wurde vor einer Ewigkeit unter Kriegstrümmern verschüttet.

In Syrien stürzen die Bevölkerungszahlen inzwischen in den Keller. Laut UN fliehen jeden Tag 5000 Menschen, 28 Prozent aller Syrer sind aus ihren Häusern vertrieben worden. Zwei Millionen Menschen haben das Land verlassen und 4,25 Millionen sind auf der Flucht im eigenen Land. Was vorherrscht, ist Unsicherheit. Die Unsicherheit, ob es morgen noch etwas zu essen gibt, Wasser, Strom, ein Dach über dem Kopf. Und die Unsicherheit, ob es überhaupt noch ein Morgen gibt.

Was Kinder erleben, kann aus ihnen lebende Zeitbomben machen

Aleppo. Die Sonne dringt durch die Einschusslöcher der Plastikfolie vor einem Hausdurchgang der einst so wunderschönen Stadt und kündigt den Beginn eines neuen Tages an. Er könnte der letzte sein für jeden der Bewohner hier. Denn sie wohnen im Stadtteil Salah Al-Din, an der Front zwischen Opposition und Regierungstruppen. Die Stadt erlangte im Krieg traurige Berühmtheit als Stadt der Scharfschützen.

Haben Sie eine Vorstellung davon, wie es ist, wenn die Hände eines Kindes beim Anblick von banalen Dingen wie einem Stift oder einem Keks zu zittern beginnen, weil es genau diese Gegenstände sind, die Erinnerungen an Schreie, Schmerz, und Tod heraufbeschwören? Salah Al-Din ist als einer der gefährlichsten Orte Syriens bekannt. Einzig eine Plane als Sichtschutz bewahrt hier spielende Kinder häufig vor dem Tod.

Die Heckenschützen Aleppos sind berüchtigt für ihre Grausamkeit gegenüber Zivilisten. Viele Male haben sie Kinder, Frauen und alte Menschen ins Visier genommen. Offizielle Zahlen sprechen von 389 Kindern, die allein in den letzten 20 Monaten erschossen wurden. Hunderte andere haben die Schüsse zwar überlebt, leiden aber an lebenslangen Behinderungen.

Der heute zehn Jahre alte Wael stand am 26. Juli 2014 mit einem Keks und einem Glas Milch in der Hand auf dem Balkon der Familienwohnung in Salah Al-Din. Dann traf ihn plötzlich die Kugel eines Scharfschützen, sie zerfetzte seinen Kiefer und stürzte ihn dadurch in einen nicht enden wollenden Albtraum aus Schmerzen und Leid.

In den engen Gassen zeugt eine beachtliche Menge an Projektilen jeder Größe von der Gefährlichkeit des Viertels. Auch für die elfjährige Lamis, ihren kleinen Bruder Ahmad und deren Eltern, die an der Front leben müssen, ist jede Bewegung ein Risiko. Die Kinder sind zu Experten in Bezug auf die Scharfschützen geworden. Auf dem Schulweg pressen sie sich eng an Hauswände, wenn sie daran entlanglaufen. In der Mitte der Straße zu gehen würde einem Selbstmord gleichkommen.

"Wenn eine Straße von Heckenschützen kontrolliert wird, musst du deinen Blick immer nach unten richten. Schaue niemals geradeaus! Die meisten Soldaten mögen es nicht, wenn man ihnen in die Augen schaut", berichtet Lamis. Das Mädchen rennt nicht nur, wenn es die Straße überqueren muss, es fliegt. Denn manchmal schießen die Killer von den umliegenden Dächern dabei den Kindern zwischen die Füße. Ein makabrer Scherz.

Die extreme Bedrohung und die absolute Hilflosigkeit hinterlassen schwere Narben auf den Seelen der Kinder. Lamis kleinen Bruder Ahmad versetzt schon das Knallen einer Tür in Panik. Es erinnert ihn an die Explosion. Ahmad spielte draußen, als eine Bombe auf dem Nachbargrundstück explodierte. Anschließend wurde der Junge Zeuge, wie Soldaten vor seinen Augen einen Mann aufgriffen und töteten. Seitdem spricht Ahmad nicht mehr und weint viel.

Psychologen sagen, dass kleine Kinder auf verstörende Ereignisse besonders intensiv reagieren. Die Kinder, die einem hier in Aleppo begegnen, wirken ungewöhnlich erwachsen. Der Krieg hat ihnen ihre Kindheit gestohlen. Sie verlieren das Vertrauen in andere Menschen, haben Angst, rauszugehen oder sind extrem aggressiv anderen und sich selbst gegenüber. "Wenn wir nicht schnell handeln, wird eine Generation von Unschuldigen dauerhaft für einen entsetzlichen Krieg geopfert werden", warnte deshalb schon 2013 der UN-Flüchtlingsbeauftragte António Guterres.

Wer hilft kriegstraumatisierten Kindern ins Leben zurück?

Ein Psychologe erzählte mir kürzlich von vier Jungen. Vor gut sechs Monaten wurden vier Jungen in einem Park in Damaskus aufgefunden. Sie schlugen sich irgendwie durch. Alle vier hatten ihre Eltern offensichtlich im Krieg verloren. Zwei der Kinder kamen nach Genehmigung der Sozialbehörden in psychologische Betreuung. In der Obhut von Familien wird den beiden das Gefühl von Sicherheit und Schutz vermittelt. Die anderen beiden Jungen im Park haben kürzlich ein Kind beim Versuch, Geld zu stehlen, getötet. Sie sind neun und zehn Jahre alt!

Diese Entwicklung ist erschreckend und lässt erahnen, dass in Syrien eine verlorene Generation heranwächst: kriegstraumatisierte Kinder, die ohne familiären Rückhalt und ohne psychiatrische Hilfe auskommen müssen. Haben diese Kinder keine Chance zu lernen, mit ihren Aggressionen und Ängsten umzugehen, hilft ihnen niemand ins Leben zurück. Dauert der Krieg an, ist die Möglichkeit groß, dass sie zu tickenden Zeitbomben werden. Sie tendieren zu Gewalt und neigen dazu, sich der stärksten und damit zumeist auch gewalttätigsten Partei zuzuwenden. Damit sind sie auch leichte Beute für Extremisten.

Eine Heilung der Kinder ist möglich, wenn die Bedrohung vorbei ist und die Eltern vorhanden sind. Es sind also unsere Familien und Freunde, die uns starkmachen. Wael, der Junge mit dem weggeschossenen Kiefer, hat wenigstens einen Freund, der ihm hilft. "Vorher war immer Wael der mutigere von uns. Er ist immer vom höchsten Felsen ins Wasser gesprungen. Nach den Operationen kann er das nicht mehr. Deswegen springe ich jetzt für ihn", sagt mir sein Freund Amir. Waels seelische Wunden sind noch lange nicht verheilt. Das Trauma, das der Scharfschütze verursachte, hat sich tief in seine Erinnerung eingebrannt. Noch immer wacht er schreiend nachts auf, weil er glaubt, von Heckenschützen ins Visier genommen zu werden.

Ich hatte Glück. Ich hatte eine Kindheit. Meine Familie gab mir Sicherheit und schöne Erlebnisse. Heute schicken sie mir Fotos dieser glücklichen Momente meiner Kindheit auf mein Handy. Diese Erinnerungen sind es, die ich an die Kinder weitergeben will. Ich weiß, dass die paar guten Erlebnisse, die ich einem Kind geben kann, wenn wir zusammen ein Kleid zum Geburtstag kaufen gehen, die Kriegsbilder nicht auslöschen werden. Die bösen Erinnerungen überlagern nun mal die guten und folgen den Kindern wie ihr Schatten. Aber ich hoffe, dass ich ihnen damit ein Stück Normalität zurückgeben kann. Einen inneren Zufluchtsort, wie ich ihn habe.

Abir Pamuk, 22 ist in Aleppo geboren. Sie studiert Anglistik in Damaskus, bloggt und arbeitet für das Nothilfe-Team der SOS-Kinderdörfer in Syrien. Für diesen Artikel hat sie mit Familien und zwei Traumapsychologen gesprochen. Übersetzung: Katharina Ebel.

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Quelle:
SZ vom 14.08.2015
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