Gastbeitrag:Dampf machen

Nicht niedrige Zinsen sind Europas Problem, sondern fehlendes Wachstum. Das kann man ändern, insbesondere in Deutschland. Beispiele für Investitonen, die das Land voranbringen und für die Zukunft fit machen würden.

Von Henrik Enderlein

Über die Zinspolitik der EZB wird derzeit viel geredet, über etwas anderes viel zu selten: Europa fehlt es an Wachstum. Dabei sind beide Punkte eng miteinander verbunden: Die EZB wird in ihre Politik gedrängt, denn Zinsen sind niedrig, wenn das Wachstum niedrig ist. Die Politik sollte deshalb Strukturreformen und Investitionen vorantreiben. Und zwar auch in Deutschland.

Die OECD hat uns gerade wieder ins Stammbuch geschrieben, dass wir bei der Reformbereitschaft Schlusslicht unter den Industrienationen sind. Und wer die deutsche Infrastruktur kennt - vom Breitbandnetz bis zum Zustand deutscher Grundschultoiletten - der weiß, dass hier Pfennigfuchserei regiert. Alle großen Wirtschaftsforschungsinstitute schätzen die langfristige Wachstumsrate in Deutschland auf rund ein Prozent. Das ist zu wenig.

Beispiel Digitalisierung: Dabei geht es nicht nur um das unzureichend ausgebaute Breitbandnetz. Wo ist die Digitalisierung der Verwaltung? Wo ist die Offensive zur besseren IT-Ausstattung von Schulen und Universitäten? Gerade Berufsbildungszentren müssen dringend modernisiert werden. Das duale System wird nur ein Pfeiler unseres wirtschaftlichen Erfolgs bleiben, wenn Berufsschulen die modernste Ausstattung bekommen und die Digitalisierung zum Kern ihrer Lerninhalte machen. Zahntechniker können wir nur zukunftsorientiert ausbilden, wenn digitale Zahntechnik und Eingliederung von 3-D-Drucktechnologie schon auf Berufsschulebene eingebettet ist. Solche Beispiele gibt es in allen Berufsbildern. Kosten sind kein Argument gegen diese Investitionen.

Beispiel Dienstleistungen: Der ganze Sektor muss aufgebrochen werden - auch gegen Partikularinteressen. Kaum ein Land schützt hoch regulierte Berufsgruppen so großzügig wie wir. Ist es wirklich angemessen, dass die notarielle Beglaubigung eines Testaments 1000 Euro kostet? Ist es noch zeitgemäß, dass das klassische Taxigewerbe besser gestellt wird als Smartphone-basierte Mobilitätskonzepte? Solche Reformen sind kontrovers, aber sozial gerecht. Es sind die unteren Einkommensgruppen, die von Wettbewerb bei den Apotheken profitieren würden, weil die Preise fallen. Es sind ältere Menschen, die durch moderne Mobilitätskonzepte endlich günstige und flexible Fortbewegung angeboten bekämen.

Die arbeitende Bevölkerung wird schrumpfen, die Wirtschaftsleistung sinken

Beispiel Demografie: Die arbeitende Bevölkerung Deutschlands wird bis 2060 um rund 20 Prozent schrumpfen. Selbst wenn das Wachstum pro Arbeitnehmer weiter steigt, wird das Bruttoinlandsprodukt nicht wachsen, weil die Zahl der arbeitenden Menschen zurückgeht. Deutschland muss deshalb mehr Menschen in den Arbeitsmarkt bringen. Das gilt zuallererst für Frauen. Es kann nicht sein, dass eine halbe Million Frauen statt in Teilzeit gern in Vollzeit arbeiten würden, aber durch allerlei Barrieren davon abgehalten werden. Ursachen sind unter anderem ein archaisches Steuermodell für Zweitverdiener (Stichwort Ehegattensplitting), aber auch die viel zu teure und spärliche Kinderbetreuung.

Dass Deutschland zu einem Einwanderungsland werden muss, ist hinreichend bekannt. Ein echtes Einwanderungsgesetz haben wir indes immer noch nicht. Das neue Integrationsgesetz ist von der Idee her lobenswert, aber wo ist das auf Punkten basierende System, um hochqualifizierte Menschen aus aller Welt zu uns zu locken? Der deutsche Arbeitsmarkt muss offener werden, zum Beispiel auch bei der Anerkennung ausländischer Ausbildungs- und Studienabschlüsse. Wir müssen außerdem hinkommen zu einer längeren Lebensarbeitszeit und kürzeren Studienzeiten. Deutschland kann es sich nicht leisten, die Gegenwart zu verwalten und seine Zukunftsfähigkeit aufs Spiel zu setzen.

Die kleine Schwester des Stolzes ist die Selbstgefälligkeit. So gut wir heute wirtschaftlich dastehen, so überraschend ist es, dass wir uns immer noch auf Reformen ausruhen, die mehr als ein Jahrzehnt alt sind. Europa braucht deutsches Wachstum. Anstatt die EZB zu kritisieren, sollten wir uns um die wirtschaftliche Dynamik in Deutschland kümmern.

Henrik Enderlein, 41, ist Direktor des Jacques Delors Instituts und Professor an der Hertie School

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