Gastbeitrag: Armin Nassehi:Wir müssen lernen

Die Klimaproteste halten der Öffentlichkeit einen Spiegel vor. Dennoch müssen die Aktivisten bereit zum Kompromiss sein.

Von Armin Nassehi

Das Thema des Jahres ist ohne Zweifel das Klima, oder besser: die Frage, ob und wie sich eine moderne, funktional differenzierte, arbeitsteilige, pluralistische Gesellschaft auf eine solche Herausforderung einstellen kann. Es ist kein neues Thema. Vieles von dem, was droht, wissen wir schon länger, etwa genau so lang, wie wir immer wieder erlebt haben, dass der Untergang der Welt annonciert wird - von der Atombombe und dem Kalten Krieg über den Raubtierkapitalismus bis hin zu ökologischen Gefährdungen unterschiedlicher Natur. Hier wiederholt sich also etwas - und doch scheint es auch etwas Neues zu geben, die empirische Dringlichkeit des Themas. Gerade weil es sich so empirisch dringlich darstellt und darstellen lässt, ist es eine große Herausforderung für eine Gesellschaft, die hier an sich selbst erlebt, dass sie nicht einfach aus einem Guss reagieren kann. Der Versuchsaufbau: Selbst wenn sich alle einig wären und selbst wenn wir wüssten, was zu tun sei, wäre damit noch nichts erreicht.

Gastbeitrag: Armin Nassehi: "Selbst wenn sich alle einig wären und selbst wenn wir wüssten, was zu tun sei, wäre damit noch nichts erreicht": Armin Nassehi.

"Selbst wenn sich alle einig wären und selbst wenn wir wüssten, was zu tun sei, wäre damit noch nichts erreicht": Armin Nassehi.

(Foto: Markus Burke)

Dies ist auch die Stunde eines soziologischen Blicks, von dem man lernen kann, dass die Gesellschaft offensichtlich widerständiger, stabiler, träger und unübersichtlicher ist, als wir es uns eingestehen. Vielleicht ist es diese Erfahrung, die die Klimaproteste so sichtbar, so zahlreich, so kontinuierlich, so deutlich werden lässt. Die Klimaproteste halten der Öffentlichkeit einen Spiegel vor. Sie demonstrieren die Tragik, dass sogar das Offensichtliche und das Notwendige nicht so leicht erreichbar sind, wie es nötig wäre, vor allem nicht so einfach, wie es die Proteste selbst suggerieren. Das ist übrigens ihre Funktion.

Dass Gesellschaften nicht aus einem Guss reagieren können, ist ein sehr abstrakter Satz. Konkret bedeutet er, dass sich politisch nur das durchsetzen lässt, womit man gewählt werden kann, dass sich nur solche Produkte, Energien, Dienstleistungen durchsetzen lassen, die sich auf Märkten bewähren, dass nur Rechtsregeln funktionieren, die sich auch konsistent darstellen lassen. Wir kennen es sogar aus dem privaten Leben, dass Verhaltensänderungen selten durch bloßes Wollen hervorgebracht werden können, sondern Rahmenbedingungen brauchen, unter denen sie sich bewähren. Es ist keine Alternative zwischen Verbot und Freiwilligkeit, Verzicht und Freiheit oder Verantwortung und Verantwortungslosigkeit. Viele hätten das gerne - gewissermaßen als Zuspitzung gesellschaftlicher Verhältnisse. Die einen wollen unbedingt, dass die Lösungen wehtun, die anderen führen am Klimawandelthema vor, dass ihre (zumeist rechts-)populistische Elitenkritik berechtigt ist. Der Lackmustest wird sein, wie wir in liberalen Lebensformen dafür sorgen können, dass wir wollen können, was wir wollen sollten, dass wir erkennen, dass sich nachhaltige Lebensstile nicht gegen den Willen der Bevölkerung durchsetzen lassen, vielleicht auch, dass sich die Dinge nicht ein für alle Mal lösen lassen.

Vielleicht ist 2019 auch ein befreiendes Jahr, eines, in dem die Gesellschaft viel über sich selbst lernt. Kann man die Klimakrise nicht auch als eine Chance lesen, eine Chance, die die Gesellschaft dazu bringt, angesichts einer großen Gesamtherausforderung neu über das Verhältnis von Problem und Lösung nachzudenken?

Ich bin überzeugt, dass sich nachhaltige Lösungen in Fragen der Mobilität, des Energieverbrauchs, der Ernährung, des Konsumstils und der sozialverträglichen Verteilung von Lasten und Kosten nur an konkreten Modellprojekten regional und im Einzelfall ausprobieren lassen. Klimapakete müssen vielleicht zunächst Päckchen sein - nicht weil ihr Anspruch niedriger sein soll, sondern weil man sie in kleineren, erreichbareren Räumen ausprobieren muss. Und vielleicht muss das der Staat mit Zuschüssen moderieren, statt eine Energiebesteuerung einzuführen, deren Auswirkungen unterhalb der Schwelle der Preisvolatilität liegen. Vielleicht sind mittelgroße Städte oder halbstädtische, halbländliche Regionen dafür die angemessenen Räume, in denen sich die Wechselseitigkeit politischer, ökonomischer und alltagstauglicher Formen ausprobieren lassen. Eine Chance könnte das sein, weil sich darin womöglich die Grundvorstellung von Lösungen überhaupt neu denken lassen. Die letzte große Krise, die Flüchtlingskrise, hat ihre Lösungspotenziale übrigens auch in solchen eher überschaubaren Neuarrangements erlebt. Warum nicht auch hier?

2019 war ein Lernjahr - und wenn das eine zu positive, eine zu naive Geschichte ist, ist sie wenigstens eine, die Möglichkeitsräume öffnet und nicht Alternativen schließt.

Armin Nassehi ist Soziologe an der LMU in München und Herausgeber des Kursbuchs. Das Kursbuch 200 "Revolte 2020" erschien Anfang Dezember.

Zum Weiterlesen: Werkstatt Demokratie

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