Süddeutsche Zeitung

Niederlande:"Geld war wichtiger als Sicherheit und Gesundheit"

Die Gasförderung in Groningen hat schwere Schäden verursacht, doch die niederländische Regierung schaute lange nur zu. In einem Untersuchungsbericht ist die Rede von "einzigartigem Systemversagen". Nun gerät Premier Rutte unter Druck.

Von Thomas Kirchner

Eigenartig, wie die niederländische Politik funktioniert. Da kann etwas vollkommen schief laufen im Land, über viele Jahre hinweg. Betroffene, Experten, Medien, Oppositionspolitiker können klagen und fordern, so lange sie wollen. Doch erst wenn ein unabhängiges Gremium das Problem schwarz auf weiß beschrieben hat, wird es allgemein anerkannt und zieht - vielleicht - politische Konsequenzen nach sich. So geschehen in der "Kinderzuschlagaffäre", bei der hartherzige Behörden Zehntausende Eltern in den psychischen und sozialen Ruin getrieben hatten. Erst ein Untersuchungsbericht führte 2021 zum kollektiven Rücktritt der damaligen Regierung von Mark Rutte, der kurz danach wiedergewählt wurde.

Dasselbe Muster weist der Umgang mit den Schäden durch die Gasförderung in der nördlichen Provinz Groningen auf. Der Abbau lässt den Boden regelmäßig erbeben und zerstört Häuser. Man weiß das schon lange. Doch das Geschäft war lukrativ für den Staat und die Förderunternehmen, und die Politiker stellten ihre Ohren auf Durchzug, sodass die Rufe der Geschädigten nach einem Stopp des Abbaus und vor allem nach einer raschen Kompensation und Sicherung der Gebäude weitgehend folgenlos verhallten.

Erst 2020, nach langem Druck Groninger Aktivisten, setzte das Parlament in Den Haag eine Untersuchungskommission ein. Deren Bericht liegt seit dem Wochenende vor. Er fällt vernichtend aus für die von Rutte seit 2010 geführten Kabinette. Er zeichnet das Bild einer Verwaltung, die die Bürger einer ganzen Region wider besseres Wissen im Stich ließ. Von einem "einzigartigen Systemversagen" war bei der Vorstellung des Berichts die Rede. "Geld war wichtiger als Sicherheit und Gesundheit", so die Kommission. "Das hatte katastrophale Folgen."

Nach einem großen Erdbeben 2012 förderte man sogar mehr Gas als vorher

Das Gasfeld rund um die Stadt Groningen wurde 1959 entdeckt und seit 1963 abgebaut, es machte die Niederlande zum zweitgrößten europäischen Gasproduzenten. Mehr als 400 Milliarden Euro spülte das in die Kassen des Staats und der Energiefirmen Shell und Exxon Mobil. Viel Geld floss in Sozialleistungen oder Hochwasserschutz; die Menschen in Groningen hingegen ließ man allein mit den Problemen. Etwa 1600 Beben wurden in der Gegend registriert. Die Auswirkungen waren gravierend, weil die Erdstöße relativ nah an der Oberfläche entstanden. Fundamente sackten ab, Wände bekamen Risse, Häuser wurden zur Gefahr für die Einwohner und verloren an Wert. Bis heute wurden mehr als 267 000 Schäden gemeldet.

Schon in der 1980er-Jahren vermutete man einen Zusammenhang mit der Gasförderung, spätestens nach einem großen Beben 2012 war er offensichtlich. Eine Aufsichtsbehörde empfahl, die Produktion "so viel und realistisch wie möglich einzuschränken". Stattdessen wurde noch mehr Gas aus dem Boden geholt. Klagen der Einwohner wurden ignoriert, ihr Wunsch nach Entschädigung stieß auf Bürokratismus und Widerwillen.

Daran habe sich bis heute nichts Wesentliches geändert, hört man von Betroffenen. Mit verheerenden Folgen, gerade für Familien: Es gebe eine Generation von Kindern, "die mit anhaltendem Stress und Unruhe zu Hause aufgewachsen sind, die vor allem gelernt haben, dass den Erwachsenen nicht zu vertrauen ist", sagte René Paas, königlicher Kommissar in Groningen. "Hätte die Regierung nur früher auf die Bürger gehört, wäre das ganze Elend nicht passiert", sagte der Kommissionsvorsitzende Tom van der Lee. Die Gasförderung ist inzwischen drastisch reduziert worden; wann sie ganz gestoppt wird, steht noch nicht fest.

Manche fordern Rutte zum nächsten Rücktritt auf

Wie es dazu kam? Sicher, die Einkünfte waren willkommen, das Gas wichtig, dazu steht manches im Bericht. Aber woher rührte die Ignoranz der Regierenden, ihr Mangel an Empathie und Respekt? Erklären lässt sich das wohl nur mit dem von Mark Rutte verkörperten Liberalismus, der in den Bürgern vor allem lästige, Ansprüche stellende Subjekte sieht, die mehr wollen, als ihnen zusteht. Weshalb Misstrauen angezeigt ist. Dieser Ansatz führte auch beim Kinderzuschlag in die Katastrophe.

Rutte, der alles geschehen ließ, ohne einzugreifen, gab sich zerknirscht, der Bericht sei "hart angekommen" bei ihm. Er müsse die fast 2000 Seiten aber erst einmal lesen. Inhaltlich reagieren werde die Regierung nach den Regionalwahlen, die Mitte März stattfinden. Ob Rutte dann abermals zurücktritt, wie manche fordern? Eigentlich habe er keine andere Wahl, sagt Coert Fossen von der Groninger Bodem Beweging, einer Bürgerinitiative. Das sei der "finale Schlag" für den Politiker, der nach seiner Wiederwahl 2021 durch eine Lügenaffäre einen heftigen moralischen Knacks erlitt. Sein Kabinett aber möge weitermachen, sagt Fossen. Eine Neuwahl und Regierungsbildung lenkten nur ab vom Wesentlichen: dass nun endlich Häuser gesichert und Kompensationen ausgezahlt würden.

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