Süddeutsche Zeitung

Tagebau:Ein hohles Symbol

Im Braunkohlerevier Garzweiler hat der letzte Einwohner das Dorf Lützerath verlassen. Und im Protestcamp rüsten sich die Klimaschützer für den Showdown: Ob es von der Polizei geräumt wird, hängt nun auch von der grünen Wirtschaftsministerin in NRW ab.

Von Christian Wernicke, Lützerath

Am Sonntag ist auch Eckardt Heukamp weggezogen. Der Bauer war der letzte Bürger von Lützerath, dem Front-Dorf der Klimabewegung und Braunkohlegegner im Rheinischen Revier. Jahrelang hatte sich der 58-jährige Landwirt gegen den Energiekonzern RWE gewehrt - vergeblich, die Gerichte billigten den Tagebau. Heukamp verkaufte Äcker und Wiesen, inzwischen haben sich die Schaufelradbagger bis auf 50 Meter an den alten Hof herangegraben. Dort zog noch am Sonntag ein Dutzend Kohlegegner ein. Die 150 Aktivisten, die seit zwei Jahren in Baumhäusern, Hütten und Zelten gegen den Tagebau Garzweiler protestieren, rüsten sich für den Showdown: Die Rodungssaison hat begonnen, dem Weiler droht - per Großeinsatz der Polizei - noch im Herbst die Räumung.

Es wäre - ausgerechnet - eine schwarz-grüne Landesregierung, die den Marschbefehl auf Lützerath erteilen müsste. Und es ist allen voran Mona Neubaur, Nordrhein-Westfalens grüne Ministerin für Wirtschaft und Klimaschutz, die es in Verhandlungen mit RWE nun noch schaffen muss, eine solche Konfrontation zu vermeiden. Oder wenigstens: irgendwie zu entschärfen. Neubaur droht schlimmstenfalls der Vorwurf des Verrats, auch aus den eigenen Reihen. Und sie wird bestenfalls Kompromisse aufbieten können, die ihre Partei zerreißen. Vor einem Jahr noch hatte die damalige Spitzenkandidatin der Grünen selbst an der Abbruchkante für den Erhalt von Lützerath demonstriert. Inzwischen, so raunt ein Düsseldorfer Parteifreund, sei der Ort für sie zu einem "verfluchten, ja vergifteten Symbol" geworden.

Einerseits hat die Umweltbewegung den Weiler längst zur Klimagrenze erklärt: Wer hier weiterbaggere, so warnen Greenpeace, lokale Kirchengemeinden wie auch viele Grüne, verletze die Ziele des Pariser Klima-Abkommens. "1,5 Grad heißt: Lützerath bleibt!" prangt es an der Außenmauer von Bauer Heukamps altem Hof. Vor einem Jahr standen hier Luisa Neubauer und die Schwedin Greta Thunberg, um namens "Fridays for Future" zum Widerstand aufzurufen; fast 9500 Menschen hatten sich bis Montagnachmittag übers Internet verpflichtet, im Falle einer Räumung vor Ort zu sein und sich "der Zerstörung in den Weg zu stellen". Vor zehn Tagen demonstrierten 3000 Menschen vor Neubaurs Ministerium in Düsseldorf und warnten: "Lützerath ist unverhandelbar!"

Andererseits pocht RWE auf sein Recht. Man wolle die Erdmassen unter Lützerath bereits 2023 "bergbaulich in Anspruch nehmen," erklärte Konzernchef Markus Krebber bereits im Sommer in der Süddeutschen Zeitung. Seitdem hat sich die Lage zugespitzt: Wegen des Ukraine-Kriegs und der gesprengten Ostsee-Pipelines muss Deutschland mehr denn je Gas sparen - und zur Stromproduktion wieder mehr Braunkohle verfeuern. RWE hat soeben drei alte Kraftwerksblöcke mit 900 Megawatt addierter Leistung reaktiviert - die nötige Kohle stammt auch aus dem Tagebau Garzweiler direkt vor Lützerath.

Theoretisch wäre Lützerath zu retten. Dann müssten andere Höfe und Äcker weichen

Ein Blick auf die Landkarte offenbart das Problem. Der Tagebau Garzweiler II wälzt sich von Ost nach West - und da steht auf halber Höhe das Symbol-Dorf im Weg. Der nordwestliche Rand des Tagebaus ist tabu: Dort liegen, mit dem Ort Keyenberg nahe der Abbruchkante, fünf Dörfer, welche die schwarz-grüne Regierungskoalition in Düsseldorf bewahren will. Will man Lützerath schonen, so bliebe den Baggern also nur die Zone südlich des Weilers. Dieses Gebiet allein jedoch genügt nicht, um bis zum geplanten Kohleausstieg im Jahr 2030 genug Erdmassen zu bewegen.

Denn Garzweiler II soll und muss nicht nur Braunkohle abwerfen - RWE benötigt obendrein unvorstellbare 500 Millionen Kubikmeter Erde. Dieser Abraum ist nötig, um noch jahrzehntealte Löcher im Tagebau Garzweiler I endlich zu verfüllen. Und um die Böschungen vor Keyenberg und Lützerath so zu gestalten, dass diese langfristig sicher und für einen geplanten künstlichen See geeignet sind.

Rein theoretisch ließe sich Lützerath dennoch retten - wenn man das Symbol-Dorf südlich und nördlich umbaggern und wie eine Halbinsel, mit einer Schneise zum Nachbardorf Holzweiler, mitten im Tagebau stehen ließe. Es gibt solche Pläne, in Düsseldorfer Ministerien wie auch in den Händen von Eckardt Heukamp, dem Bauern ohne Land. Lützerath bliebe dann, als ewige Erinnerung an die 1,5-Grad-Grenze, ein Mahnmal im Braunkohlerevier. Aber eben auch: ein leeres Dorf, ein totes Symbol.

Und dieser Insel-Plan hätte obendrein einen hohen Preis. Die RWE-Bagger würden die Erde anderswo aufreißen, um an ihre Kohle und an den nötigen Abraum zu gelangen. Als Ausweg nach Westen bliebe nur ein etwa ein bis zwei Kilometer breiter Streifen westlich von Lützerath und nördlich von Holzweiler: Äcker und Wiesen, bester Lössboden - und mittendrin drei freistehende, mehr als 800 Jahre alte Bauernhöfe. Im südlichen Weyerhof wohnt seit Sonntag nun Bauer Heukamp - und im östlichen Gehöft lebt seit mehr als 150 Jahren die Familie von Petra Schmitz.

Die 1,5-Grad-Grenze verteidigen mit jedem Windrad und jeder Solaranlage

Zehn Familien, insgesamt 25 Menschen, sind auf den drei Feldhöfen zu Hause. Die Bäuerin hat viele Jahre mitgemacht beim Protest gegen die Braunkohle. Bis vor eineinhalb Jahren hat sie geglaubt, das östlich gelegene Lützerath sei gegen die Bagger wie ein Schutzwall für die Höfe. Dann der Schock - man könne auch vorbeibaggern am Symbol-Dorf, erfuhr Schmitz aus dem Düsseldorfer Wirtschaftsministerium. Nun muss sie fürchten, dass ihr Hof fallen wird, weil Lützerath stehen bleibt.

Neben Schmitz steht an der Toreinfahrt Reiner Priggen. Der Mann ist ein Veteran der Braunkohlepolitik, seit mehr als 25 Jahren verhandelt der frühere Landtagsabgeordnete und Fraktionschef der Grünen mit CDU, SPD und auch RWE um ein Ende des Kohleabbaus. Bei den NRW-Grünen gilt Priggen als "der Pate": Umweltminister Oliver Krischer war einst sein wissenschaftlicher Mitarbeiter, und auf Mona Neubaur hielt er im Juni die Laudation, nachdem der Parteitag die schwarz-grüne Koalition abgesegnet hatte. Es hat also Gewicht, wenn der 69-jährige Realo sagt: "Lützerath zu retten, wäre falsche Symbolpolitik."

Kohle gegen Putin, Abraum für die Böschungen, der Untergang für drei Bauernhöfe - Reiner Priggen nennt das "ein Dilemma" und mahnt: "Die Klimabewegung muss das genau abwägen." Ja, er habe "auch grüne Regierungsmitglieder auf das Dilemma hingewiesen". Aber nein, zu entscheiden habe er nichts. Das Argument jedoch, dass exakt und allein durch Lützerath die deutsche 1,5-Grad-Grenze verlaufe - das lässt Priggen nicht gelten. "Denn diese Grenze verteidigen wir mit jedem Windrad, und auf jedem Dach mit Solaranlagen." Priggen meint: überall. Für Lützeraths Klima-Aktivisten hingegen hieße das: nirgends.

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