Süddeutsche Zeitung

70. Todestag von Mahatma Gandhi:Gandhis verschmähtes Erbe

Kaum ein Mensch verkörperte Gewaltfreiheit so wie Gandhi. Eine Rückbesinnung auf seine Ideen könnte Indien heute helfen - gegen religiöse Hetze und als Lebensversicherung für den multikulturellen Staat.

Kommentar von Arne Perras

Als ein Hindufanatiker am 30. Januar 1948 drei Kugeln auf Mahatma Gandhi abfeuerte, wollte er nicht nur den Menschen töten. Der Anschlag galt auch einer Idee. Gandhis Aufrufe zur Versöhnung zwischen Hindus und Muslimen empfanden radikale Eiferer als unverzeihliche Provokation, sie betrachteten Gandhis Werk als Zeichen der Schwäche, die es nicht geben durfte im Kampf um Macht und Freiheit auf dem indischen Subkontinent.

Ideen aber lassen sich nicht töten, nicht einmal die der Gewaltlosigkeit. Gandhi wurde zu einer Quelle der Inspiration, seine Ideen haben Mut und Zivilcourage in aller Welt befördert. Es ist nicht immer so, als würden sie zu jeder Zeit und überall triumphieren. Oftmals setzt sich eben doch die Macht der Gewalt durch.

Aber das hat Gandhi nicht erschreckt und das machte ihn so besonders: Es gibt keinen Weg zum Frieden, sagte er. Denn Frieden ist der Weg. Gandhi war ein Mensch, der Gedanken nicht nur proklamierte, sondern sie lebte. Und es ist diese unerschütterliche Konsequenz, die ihn zum Vorbild macht. Kaum ein anderer Mensch des 20. Jahrhunderts verkörperte Gewaltfreiheit so wie der Mahatma, "die große Seele".

Sein größtes Verdienst war es, den gewaltlosen Widerstand zu einer veritablen politischen Strategie gemacht zu haben, an deren Wirkung zuvor kaum einer geglaubt hatte. Eine "alberne Nummer" - so machten sich anfangs die britischen Kolonialherren über Gandhi lustig. Winston Churchill spottete über den "halbnackten Fakir". Aber der Asket, den der Westen nicht zu deuten wusste, hat schließlich bewiesen, welchen Schub die Idee der Gewaltlosigkeit entwickeln konnte. Gandhi war zu einer treibenden Kraft im Kampf gegen koloniale Unterdrückung geworden - und das ganz ohne tödliche Waffen.

Gandhis Leben war nicht frei von Irrtümern

Man muss Gandhi deshalb nicht gleich in den Stand eines Heiligen erheben. Sein Leben war nicht frei von Irrtümern, Gandhi hatte, wie auch ein Nelson Mandela oder ein Martin Luther King, Schwächen, machte Fehler. Er war keineswegs das vollkommene Wesen, zu dem ihn manche später verklärten. Dennoch zählt er zu den Lichtgestalten des 20. Jahrhunderts.

70 Jahre nach seinem Tod wird man sich allerdings auch fragen müssen: Was ist übrig vom Erbe des Mahatma? Und haben seine Ideen noch Zukunft? Natürlich halten die Inder ihren Übervater in Ehren. Aber wer etwas genauer hinsieht, merkt auch: Das Gedenken an den Mahatma ist mehr Ritual als gelebtes Erbe. Vermutlich haben seine Nachkommen nicht ganz unrecht, wenn sie vermuten, dass der Mahatma einigermaßen erschrocken wäre, könnte er sehen, was aus Indien geworden ist.

Rabiate Umweltzerstörungen, grassierendes Elend in den Dörfern, Hunderte Millionen Bauern, denen noch immer ein Leben in Würde verwehrt ist - all dies würde Gandhi vermutlich traurig stimmen. Wobei man fairerweise sagen muss, dass die Globalisierung vielerorts die Ärmsten vom Wohlstand ausschließt, dass sie die Kluft zwischen Arm und Reich auf allen Kontinenten immer weiter aufreißt. Regierungen, egal welcher Couleur, sind selten fähig oder gewillt, das Elend ganz unten aufzulösen.

Ob Gandhi die richtigen Antworten geben könnte, ist nicht gewiss. Wahrscheinlich aber ist, dass den radikalen Asketen der sorglose Konsum, der die Grundlagen allen Lebens bedroht, schockieren würde. Vielleicht würden schon etwas mehr Demut und Bescheidenheit helfen, um Zukunft für alle zu ermöglichen.

Gandhi war ein zutiefst spiritueller Mensch, aber seine Religiosität unterschied sich doch deutlich von jenen Tendenzen, die heute vielerorts eine Renaissance erleben. Politik setzt immer stärker auf Religion als Werkzeug. Der Glaube wird dazu missbraucht, Macht zu zementieren und Gefolgschaft zu mobilisieren, auch und gerade in bewusster Absetzung zu anderen Religionen.

Diese spalterischen Strategien sind auch in Indien zu beobachten, wo die Hindu-Rechte seit einigen Jahren großen Auftrieb verspürt. Sie beruft sich auf nationalreligiöse Ideen, die darauf zielen, das pluralistische Indien in einen Hindustaat zu verwandeln. Es waren diese Vorstellungen, die einst auch den Hass radikaler Hindus auf den Versöhner Gandhi schürten.

Religiöse Hetze ist das gefährlichste Gift, das den sozialen und politischen Frieden Indiens bedroht. Deshalb wäre eine Rückbesinnung auf die Versöhnungsgedanken Gandhis eine Lebensversicherung für den multikulturellen Staat, der schon in wenigen Jahren das bevölkerungsreichste Land der Welt sein wird.

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SZ vom 30.01.2018/dit
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