Süddeutsche Zeitung

Gaddafis Tod und die Folgen für Libyen:Nach dem Sieg ist vor dem Kampf

Die Libyer feiern den Tod von Muammar al-Gaddafi. Nach 42 Jahren hinterlässt der Despot ein zersplittertes Land: Libyen kennt zwar bisher keine Institutionen, doch die riesigen Vorkommen an Öl und Gas geben dem Übergangsrat große Gestaltungsmöglichkeiten. Das Problem: Abgesehen vom Feindbild Gaddafi haben die Rebellen wenig Gemeinsamkeiten - und längst nicht alle sind Demokraten.

Matthias Kolb

Nach dem Tod von Libyens Diktator Muammar al-Gaddafi soll es nun möglichst schnell gehen. Schon innerhalb des nächsten Monats soll eine neue Übergangsregierung gebildet werden, verspricht der Vorsitzende des Nationalen Übergangsrates, Mustafa Abdul Dschalil. Acht Monate später, so der Plan, wird ein Nationalkongress einberufen, um die Weichen für einen Neuanfang zu stellen.

Doch viele Journalisten und Analysten bezweifeln, dass der ambitionierte Zeitplan umgesetzt werden kann. Für den britischen Guardian etwa steht das nordafrikanische Land "am Scheideweg", in der New York Times spricht der tunesische Diplomat Ahmed Ounaies von der "holprigen Straße", auf der die Araber momentan unterwegs sind, und die Frankfurter Allgemeine Zeitung sieht die etwa 6,5 Millionen Libyer "vor der längsten Etappe".

Ein Hindernis in den Augen vieler Experten: Anders als in Tunesien, wo am Sonntag die ersten freien Wahlen nach dem Beginn des Arabischen Frühlings abgehalten werden, kann sich der neue libysche Staat auf keine bestehenden Institutionen stützen: In Muammar al-Gaddafis "Volksmassenstaat" gab es weder Parteien noch ein echtes Parlament.

Deswegen hält Jochen Hippler von der Universität Duisburg-Essen "die nächsten sechs bis zwölf Monate" für entscheidend. Der Politologe sagte der ARD: "Das Land muss nun zusammengeführt werden. Wenn dies nicht gelingt, kann es zu Spaltungen und zu Gewalt zwischen ethnischen Gruppen und vor allem zwischen Stämmen kommen." Hippler warnt: "Man muss aufpassen, dass das Land nicht zerfällt."

Auch Markus Kaim, der an der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) forscht, rät dem Übergangsrat in der ARD, eine "Politik der Inklusion" zu verfolgen, also "die Hand zu Amtsträgern des Gaddafi-Regimes auszustrecken und möglichst viele politische und ethnische Gruppierungen an der Machtausübung zu beteiligen". Ähnlich argumentiert Volker Perthes, der Direktor der SWP, im Deutschlandradio Kultur. Es sei für die Zukunft Libyens sehr wichtig, die Stämme zu integrieren, die Gaddafi unterstützt haben: "Man wird Ressourcen und Positionen so verteilen müssen, dass alle sagen, das ist halbwegs fair."

Nach Perthes' Einschätzung hat der Übergangsrat "gute Chancen", das Land in geordnete Bahnen zu führen. Bereits jetzt seien in dem Gremium Vertreter vieler Regionen und Kommunen vertreten. Als größte Herausforderung nennt Perthes, dessen Institut auch die Bundesregierung berät, die völlige Abwesenheit von "funktionierenden Regierungs- und Verwaltungsstrukturen". Der Stolz der Libyer, die Diktatur selbst abgeschüttelt zu haben, sei eine wichtige Ressource.

Deutlich pessimistischer ist Lisa Anderson, die an der American University in Kairo zu Libyen forscht und dem Land in der New York Times eine "schreckliche Zukunft" vorhersagt. Lange Zeit sei eine "morbide Faszination" für Gaddafi das einzige gewesen, was die Libyer vereint hätte. Bis die Bilder seiner Leiche in den arabischen Medien gezeigt wurden, hätte viele eine Rückkehr des "Bruder Führers" befürchtet. Wenn sich die Euphorie über Gaddafis Ende gelegt hat, werden die Libyer erkennen müssen, dass sie nun gar nichts mehr verbinde, analysiert Anderson.

Mit dem Sturz und dem Tod des 69 Jahre alten Alleinherrschers haben die Rebellen und die Vertreter des Übergangsrats ihr wichtigstes Ziel erreicht. Nun könnte bald noch offener zu Tage treten, wie unterschiedlich die Ansichten über das Libyen der Zukunft sind. Es sind äußerst "divergierende Kräfte", die nach Einschätzung der Süddeutschen Zeitung an der Macht beteiligt werden und an den Reichtümern Libyens partizipieren wollen: Traditionalisten und Liberale, Demokraten und Islamisten, Geschäftemacher und Stammesführer.

Ähnlich beschreibt der Libyen-Experte Timo Behr vom Finnish Institute of International Affairs die Lage im Interview mit dem Standard: "Es sind also schon ganz allein die Revolutionäre selbst, die sich da in den Haaren liegen. Vieles deutet darauf hin, dass es sehr, sehr schwierig sein wird, dass alle an einem Strang ziehen."

So könnten die Chefs der Milizen, die Gaddafis Heimatstadt Sirte sowie andere Orte nach schweren Kämpfen und mit hohen Verlusten erobert haben, mehr Mitsprache fordern. Äußerst schwierig ist es, die Stärke der Islamisten einzuschätzen: Mit Abdel Hakim Belhadsch ist ein früherer Al-Qaida-Mann Militärchef in Tripolis und der einstige Emir der "Libyschen Islamischen Kampfgruppe" wird wegen seiner Schlüsselrolle in der Eroberung der Hauptstadt einflussreich bleiben. Erst im September hatte Mustafa Abd al-Dschalil erklärt, die Scharia solle die wichtigste Grundlage für die Gesetzgebung in Libyen sein, was als Zugeständnis an die Islamisten gewertet wurde.

Auch wenn die wochenlang belagerten Städte Sirte und Bani Walid nun in der Hand der Rebellen sind und die Nato ihren Einsatz wohl bald für beendet erkären wird, ist noch nicht sicher, dass die Waffen in Libyen schweigen und die Kämpfe endgültig aufhören werden. Zwar ist nach Ansicht von Günter Meyer, dem Leiter des Zentrums für Forschung zur Arabischen Welt an der Universität Mainz, die "Gefahr von Guerilla-Aktivitäten" durch Gaddafis Tod geschrumpft, da die Hoffnung seiner Anhänger, das Blatt noch wenden zu können, endgültig zerstört sei.

Offen bleibe jedoch die Frage: "Was passiert mit den Milizen, die wirklich hervorragend ausgerüstet sind", sagte Meyer im Deutschlandfunk. Es sei ungewiss, ob sie bereit seien, ihre Waffen abzugeben. "Da werden noch erhebliche Probleme zu lösen sein", prognostiziert der Libyen-Experte. Auch die Gefahr von Racheakten, etwa durch den Gaddafi-Clan, besteht weiter.

Die Sorge, was mit den unzähligen Waffen geschehen soll, die in Libyen im Umlauf sind, beschäftigt auch viele westliche Diplomaten und Spitzenpolitiker. Der britische Außenminister William Hague formulierte die Erwartung, dass die neue Übergangsregierung die verschiedenen Milizen unter Kontrolle bringen und einem zentralen Kommando unterstellen müsse. Ähnlich äußerte sich US-Außenministerin Hillary Clinton, die davor warnte, Fehler aus dem Nachkriegsirak zu wiederholen: "Die verschiedenen Milizen müssen zu einer Nationalarmee zusammengeführt und diese einem Zivilisten unterstellt werden."

Großbritannien und die USA haben dem Übergangsrat in diesen Sicherheitsfragen Hilfe angeboten und wollen die Libyer auch bei der Suche nach Gaddafis Waffenlagern unterstützen. Deutschland, das sich im März im UN-Sicherheitsrat enthalten und sich nicht an dem von Frankreich und Großbritannien geführten Nato-Einsatz beteiligt hat, will Schwerverletzte aus Libyen ausfliegen und hierzulande behandeln.

In den kommenden Wochen dürften noch mehr ausländische Staats- und Regierungschefs nach Tripolis reisen, um die Hilfe ihrer Länder anzubieten sowie Wirtschaftskontakte zu knüpfen. SWP-Chef Perthes warnt die ausländischen Partner Libyens davor, lange zu warten: "Man muss jetzt zeigen, dass man bereit ist, mit dem Land zusammenzuarbeiten. Man muss auch Flagge zeigen und nicht darauf hoffen oder sich davor fürchten, dass der Übergangsrat vielleicht aus Dankbarkeit gegenüber Franzosen und Briten sowieso Verträge und Aufträge nur an britische und französische Gesellschaften geben werde."

Anders als in Tunesien oder Ägypten sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Libyen recht gut: Es verfügt über die größten Ölreserven Afrikas, einige große Vorkommen sind noch gar nicht erschlossen. 2010 trug das nordafrikanische Land zwei Prozent zur weltweiten Ölproduktion bei. Zwar sind Pumpstationen offenbar schwer beschädigt sowie Verladeanlagen und Häfen zerstört. Deshalb könne es Monate, vielleicht bis zu einem Jahr dauern, bis die Produktion wieder anlaufen werde, sagte Gerhard Roiss, der Chef des österreichischen Energiekonzerns OMV, Anfang September der Süddeutschen Zeitung. OMV, der größte Ölkonzern Mitteleuropas und die Nummer 17 in der Branche weltweit, bezog noch vor einem Jahr zehn Prozent seines Öls aus Libyen.

Wegen des Öl- und Gasreichtums wird Libyen wohl keine Übergangskredite bei der Weltbank und dem Internationalen Währungsfonds beantragen müssen; zudem müssten die im Ausland eingefrorenen Gelder bald wieder bereit stehen. Mit den Beteiligungen des Gaddafi-Clans im Ausland verfügt das neue Libyen über Milliardensummen, die unter anderem in die Infrastruktur investiert werden könnten.

Der Vertreter der österreichischen Wirtschaftsdelegation in Tripolis, David Bachmann, beschreibt die Lage im Standard so: "Es fehlt an Lebensmitteln, medizinischen Produkten. Man hat sich gänzlich auf das Politisch-Militärische konzentriert, ökonomisch hingegen ist nichts weitergegangen." Der Ökonom sieht in dem Maghreb-Staat jedoch viel Potenzial: "Libyen hat beste Voraussetzungen, wirtschaftlich abzuheben".

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