Süddeutsche Zeitung

Gaddafis schwindende Macht:Libyen, ein Staat zerfällt

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Einst versorgte Gaddafi Terroristen in aller Welt mit Waffen und Geld. Doch dann hofierte die Welt den libyschen Herrscher, denn er hat etwas, was jeder will: Erdöl. Jetzt wird er abermals geächtet. Das macht ihm nichts aus, er wird brutal gegen seine Gegner vorgehen. Doch am Ende könnte er tot durch die Straßen geschleift werden - und sein Land gespalten haben.

Rudolph Chimelli

Im libyschen Massenstaat, der Erfindung Muammar al-Gaddafis, musste man immer mit Überraschungen rechnen. Der Revolutionsführer stattete einst Terroristen vom Baskenland bis zu den Philippinen mit Geld und Waffen aus, ließ über Lockerbie und der Sahara Verkehrsflugzeuge explodieren, sodass Ronald Reagan versuchte, ihn mit seinen Raketen im Zelt als "tollwütigen Hund" abzuschießen.

Dann wurde Gaddafi friedfertig, stellte seine Atombasteleien ein und half den Amerikanern mit seinen Geheimdiensten bei der Verfolgung von al-Qaida. Alle Welt hofierte ihn nun, denn er hat etwas, was jeder will: Erdöl. Die Vorkommen liegen noch dazu ganz nahe an Europa. Bei all seiner Skurrilität schien Gaddafi ein Bürge für jene Kombination von Stabilität und Stagnation zu sein, die der Westen an arabischen Potentaten bis vorgestern über alles schätzte.

Und jetzt, im Unglück, verhält sich der Potentat wieder anders als seine vormaligen Nachbarn, die Diktatoren Tunesiens und Ägyptens. Die warfen nach einigen Tagen Volksaufstand das Handtuch. Gaddafi hingegen wehrt sich mit einer Brutalität, die nur den überraschen kann, der die Schattenseiten seines Regimes vier Jahrzehnte lang nicht sehen wollte.

Gaddafi hat in diesen Jahren die Erfahrung gemacht, dass er mit internationaler Ächtung leben kann. Deshalb ist der Ausgang des Ringens zwischen dem "Bruder Revolutionsführer" und seinen jüngeren Geschwistern, den Menschen im Land, noch ungewiss. Vielleicht gelingt es ihm noch einmal, den Aufstand mit Bomben und Panzern niederzuschlagen und sich zu halten. Falls nicht, riskiert er durchaus, als Toter durch die Straßen geschleift zu werden wie vor einem halben Jahrhundert der unglückliche König des Irak.

Wie das Zweistromland, so ist auch Libyen kein historisch gewachsener Staat. Das gibt dem Aufstand einen zusätzlich dramatischen Charakter: Die Revolten in Tunis und Kairo stellten nie die Einheit des Landes in Frage; in Libyen verhält es sich anders. Das nordafrikanische Land war ferne Provinz der arabischen und osmanischen Weltreiche, dann italienische Kolonie. Nach seiner Befreiung wurde es ein Königreich, das seine historischen Wurzeln in der einheimischen Mystiker-Bruderschaft des Senussi-Ordens hatte. Die Phase währte aber nur für eineinhalb Jahrzehnte. Dann errichtete der moderne Polit-Mystiker Gaddafi seine Herrschaft.

Eine Republik wie andere arabische Putsch-Generäle wollte er nicht. Liberale Demokratie verabscheute er. Die Islamisten, die hartnäckig den Koran seinem Grünen Buch vorzogen, erkannte er schon bald als Gefahr. Also dachte er sich die "Volks-Dschamaharija" aus, auch auf Arabisch ein Monstrum, eine Art Basis-Demokratie, in der niemand außer ihm das Geringste zu sagen hatte. Präsident, Chef der Regierung oder einer Partei war Gaddafi nie. Aber er bestimmte alles.

In der Woche des Aufruhrs hat er die Kontrolle über die historische Großprovinz Cyrenaika weitgehend verloren. Bengasi, Beida, Tobruk, mindestens ein halbes Dutzend Städte, scheinen in den Händen der Aufständischen zu sein. Dort, tausend Kilometer östlich der Hauptstadt Tripolis, liegt südlich von Bengasi der größere Teil der libyschen Erdölvorräte. Hier lebt knapp die Hälfte der Libyer. Doch dieser Osten, in dem der Aufstand am heftigsten tobt, wurde bei der Entwicklung des Landes über Jahrzehnte hinweg vernachlässigt. Die Sehnsucht nach dem Senussi-König blieb dort lange lebendig. Danach begünstigte der traditionelle Islam den Aufstieg des Fundamentalismus. Vom Ölgeld hingegen profitiert vor allem die Provinz Tripolitanien.

In Libyen hat bei niedrigem Lebensstandard jeder zu essen. Brotrevolten wie in Tunesien hat es nie gegeben. Neben dem Verlangen nach Reformen und mehr Freiheit für alle ist der Aufstand in seinen Motiven auch die Auseinandersetzung einer Landeshälfte mit der anderen. Lässt sich kein friedlicher Ausgleich mehr finden, hält Gaddafi am Ende nur noch Tripolitanien, dann ist auch eine Spaltung Libyens letztlich nicht auszuschließen.

Die Chancen für einen Kompromiss stehen nicht gut. Es heißt, Vermittler hätten versucht, Gaddafis rechte Hand von ehedem, den später geächteten Abdel Salam Dschallud als Chef einer Übergangsregierung zu gewinnen. Aber der scheint nicht zu wollen. Der Revolutionsführer wird außerdem loyale Stämme als Verbündete seiner Truppen zu gewinnen versuchen. Aus dem Regierungslager desertieren indessen nicht nur Soldaten, die ihr Leben aufs Spiel setzen, und Diplomaten auf risikofreien Auslandsposten, sondern auch religiöse Würdenträger und erste Minister. Der Staat zerfällt.

Nur publizistische Hochstapler könnten behaupten, sie hätten vor einer Woche Gaddafis raschen Absturz vorhergesehen. Wie früher einmal der großen Sowjetunion, so sagten Experten dem kleinen Massenstaat selbst nach der Vertreibung Ben Alis und Mubaraks eher eine lange Periode des kränkelnden Niedergangs voraus. Daraus wurde nun ein plötzlicher Kollaps mit blutigen Verwicklungen.

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Quelle:
SZ vom 23.02.2011
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