Gaddafis Herrschaft geht zu Ende:Libyens Zukunft nach der Patchwork-Rebellion

Schwer bewaffnete Milizen, radikale Islamisten und weiterkämpfende Gaddafi-Getreue: Der entmachtete Despot hinterlässt ein gespaltenes Land. Und während die als modern geltende Bevölkerung von Tripolis tanzt und jubelt, wittern längst vergessene Kräfte ihre Chance auf ein Stück Macht - die von Gaddafi entmachteten Stämme.

Sonja Zekri

Auf dem Grünen Platz, dort, wo Muammar al-Gaddafi seine Anhänger sonst mit etwas kasperletheaterhaften Auftritten von der Mauer des Roten Schlosses herab begeistert hat und Souvenirverkäufer Muammar-Devotionalien verkauften - auf diesem Grünen Platz gibt sich Gaddafis Volk nun tanzend, singend, triumphierend einem besinnungslosen Taumel hin. Monatelang hatten sie ihren Hass heimlich geflüstert. Nun ist ein Albdruck von ihnen genommen. Nach 42 Jahren ist Gaddafis Herrschaft gebrochen.

Rebel council leader press conference

Er warnt vor allem vor islamischen Extremisten: Mustafa Abdel Dschalil, Chef des nationalen Übergangsrats.

(Foto: dpa)

In der Nacht zum Montag waren seine Gegner reibungslos in die Hauptstadt mehr eingerollt als einmarschiert, hatten zwei Söhne des Machthabers festgenommen, darunter den Nachfolgekandidaten Saif al-Islam, der inzwischen vom Internationalen Strafgerichtshof mit Haftbefehl gesucht wird. Gefeiert und angefeuert von den Einwohnern stürmten die Pick-ups der Rebellen bis zum Grünen Platz, Gaddafis schönster Bühne.

Noch aber wird gekämpft in Tripolis, vor allem im Viertel um Gaddafis Festung Bab al-Asisija. Auch vor dem Hotel Rixos, in dem das Regime alle ausländischen Journalisten untergebracht hat, kontrollieren Gaddafi-Anhänger die Straßen. Rebellensprecher Nuri Echtiwi berichtete den Agenturen, nach vier Stunden Ruhe seien Panzer und Pritschenwagen mit schweren Maschinengewehren aus Gaddafis schwer zerstörter Residenz gestürmt: "Sie schossen wahllos in alle Richtungen, wo auch immer Gewehrfeuer zu hören war." Von vielen Dächern herab bedrohen Scharfschützen die Menge. Einige Rebellen sagen, man kontrolliere 95 Prozent der Hauptstadt, andere geben zu: Ein Fünftel der Stadt ist noch in den Händen des Regimes.

Chamis al-Gaddafi, Gaddafi-Sohn und Kommandeur einer gefürchteten Eliteeinheit, soll mit seinen Männern ins Zentrum vorrücken. Zur Verstärkung der Gaddafi-Gegner sollen sich 1000 Kämpfer aus Misrata im Osten nach Tripolis durchgeschlagen haben. Aber noch ist Libyen nicht befreit, von der Rebellenhochburg Bengasi bis ins umkämpfte Tripolis wechseln sich regimetreue Regionen mit aufständischen Städten ab. Ein politisches Patchwork, das die Sollbruchstellen in einem Nachkriegslibyen markiert.

Libyen ist noch nicht befreit

Anders als in Tunesien und in Ägypten wurde der Sieg über den Tyrannen in Libyen mit Waffen erkämpft. Libyen erlebt die letzten Tage eines Bürgerkriegs, der Familien gespalten hat, in dem Gaddafi-kritische Väter Gaddafi-begeisterten Söhnen gegenüberstanden. Wenn nun US-Präsident Barack Obama und Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen fast wortgleich fordern, der Übergang in ein neues Libyen müsse alle Gruppen der Gesellschaft einbeziehen, dann schimmert eine Ahnung durch, welche Kräfte eine demokratische Zukunft bedrohen.

Mustafa Abdel Dschalil, sanftzüngiger Chef des Nationalen Übergangsrates, drohte - den Sieg vor Augen - mit seinem Rücktritt: "Es gibt islamistische Extremisten, die Rache suchen und Chaos in der libyschen Gesellschaft stiften wollen", warnte er. Andere Stimmen warnen vor der Vielzahl von Milizen. Die Einheiten, die aus den Nafusa-Bergen im Südwesten der Hauptstadt als erste nach Tripolis vorgedrungen sind, lassen sich von den Kämpfern im Osten wenig sagen. "Sie alle werden Tripolis kontrollieren wollen. Wir brauchen Ordnung", zitiert der Sender Al-Arabija einen Rebellenführer.

Übergangsregierung mit vager Legitimation

Gemeinsam ist allen, dass sie nach der Plünderung der Militärlager Gaddafis noch schwerer bewaffnet sind. Die Entwaffnung der ruhmreichen Kämpfer und die Sicherheit im neuen Libyen sind Schlüsselfragen für die Stabilität einer Übergangsregierung mit mehr als vager Legitimation. Das moderne Libyen ist eine Schöpfung Muammar al-Gaddafis, geschmiedet aus einer postkolonialen, postmonarchischen Verfügungsmasse, aus den drei Provinzen Tripolitania im Westen, Cyreneika im Osten und Fezzan im Süden. Gaddafi brach die Herrschaft der Stämme und stärkte die Rechte der Frauen, anstelle des Patriarchats implantierte er einen politisch amorphen "Massenvolksstaat", eine Fiktion direkter Demokratie ohne Parteien und Gewerkschaften, aber mit "Revolutionskomitees", die überwachten und denunzierten.

People celebrate in Benghazi

Viele Libyer sind sich in einem sicher: Sie wollen, dass Gaddafi bestraft wird. Wie seine verflossene Macht in Zukunft aufgeteilt wird, bleibt vorerst unklar.

(Foto: dpa)

Nach dem absehbaren Ende des Gaddafi-Libyens werden die Stämme zu einem raren Element sozialer Ordnung in einer politischen Stunde null. Wer in Tripolis nach der Stammeszugehörigkeit fragt, provoziert böse Blicke: Die Hauptstadt sieht sich als Tor zur Welt, kultiviert und gebildet, wenn auch im bescheidenen libyschen Maßstab. Die Berber-Stämme in den Nafusa-Bergen im Südwesten der Hauptstadt aber, Libyens Ureinwohner, haben nach Jahrzehnten der Unterdrückung durch Gaddafi ihre eigne Flagge wieder eingeführt, sie drucken Zeitungen und betreiben Fernsehsender in der einst unterdrückten Sprache Tamasight. Sie werden sich die neue Autonomie kaum nehmen lassen. Und im Osten des Landes treibt der Stamm des getöteten Militärchefs Abdel Fattah Junis die Rebellenführung im Übergangsrat schon heute vor sich her.

Gaddafi-Anhänger könnten sich in Terror flüchten

Der Rückfall in den Tribalismus ist eines der abschreckenden Szenarien, eine provozierende politische und wirtschaftliche Umverteilung ein anderes. Als negatives Vorbild gilt Irak. Zwar war die neue Regierung in Bagdad das Ergebnis des amerikanischen Angriffskrieges, keines Volksaufstandes, die Nachkriegsfehler aber hätten in Libyen ähnlich verheerende Auswirkungen. Ähnlich wie die Anhänger Saddam Husseins könnten sich die Gaddafi-Getreuen in Terror und Sabotage flüchten, wenn sie - wie es mit der Baath-Partei in Irak geschah - im neuen Libyen keinen Platz finden. Gehätschelte Regionen wie Gaddafis Geburtsort Sirt, bis heute von den Rebellen unbesiegt, könnten sich radikalisieren, der Staatsmacht entziehen und so eine stärkere ausländische Militärpräsenz erzwingen. Die nun gefeierte Nato würde rasch als Besatzungsmacht geschmäht.

Vieles hängt davon ab, ob Gaddafi bald gefasst wird. Nach Ägyptens Mubarak und Tunesiens Ben Ali ist der Revolutionsführer ohne Staatsamt ein weiterer arabischer Führer, der den Moment zum Abgang verpasst hat. Vielleicht hat er sich in Bab al-Asisija verschanzt, vielleicht Tripolis schon längst verlassen. Der Welt geht ein Despot verloren, wenn auch einer mit philosophischem Anspruch. Die Tyrannei eines Einzelnen sei die schändlichste aller Tyranneien, hat Gaddafi einmal geschrieben, "die Tyrannei der Massen dagegen die brutalste".

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