Gabriel in Jordanien:Den Tränen nah

Vizekanzler Gabriel besucht ein Flüchtlingscamp in Jordanien - und lernt, welche Probleme auf Deutschland erst noch zukommen könnten.

Reportage von Christoph Hickmann, Zaatari

Wenn Sigmar Gabriel öffentlich auftritt, stehen üblicherweise mehrere Stimmungslagen zur Auswahl. Es gibt den knurrigen Gabriel, den nachdenklichen, den mitreißenden Gabriel. Am Dienstagmorgen aber ist Gabriel einfach nur ein Mann, der mit den Tränen kämpft. Dem Vizekanzler versagt kurz die Stimme.

Gabriel steht im Flüchtlingscamp Saatari, Jordanien, von hier sind es nur wenige Kilometer bis zur Grenze mit dem Bürgerkriegsland Syrien. Gerade ist er aus einem Container getreten, in dem er, auf einer Matratze sitzend, mit einer syrischen Familie geredet hat. Dem Vater fehlt ein Bein, er war, so hat er es geschildert, mit dem Auto unterwegs, als es einen Raketenangriff gab.

"Man wird demütig"

Einer seiner Söhne verlor beide Beine, ein Auge, mehrere Finger. Vater und Sohn saßen vor Gabriel, der Vater sagte, dass er nicht mehr arbeiten könne. Drei weitere Kinder habe er mit seiner Frau, die auf der nächsten Matratze saß. Da müsse man etwas tun, sagte Gabriel, er könne nichts versprechen, aber man müsse es versuchen.

Zum Abschied beugte er sich herunter, wandte sich halb an den Jungen, halb an den Übersetzer: "Er soll nicht aufgeben."

Nun steht Gabriel draußen und muss schlucken. Er fasst sich, dann sagt er in die Kamera, dass man solche Familien eigentlich hier herausholen müsse. "Es gibt keine Chance für die, hier am Leben zu bleiben."

Jemand fragt, wie all das hier auf ihn wirke, verglichen mit den Problemen, über die gerade in Deutschland geredet werde. Gabriel sagt: "Man wird demütig."

Das Flüchtlingscamp Saatari ist das größte in der arabischen Welt, eine Aneinanderreihung von Containern, Hütten und nochmals Containern, so weit man sehen kann, hingestellt in den Staub, entstanden vor mehr als drei Jahren, dann gewachsen, derzeit leben um die 80 000 Menschen hier.

Die Syrer, hieß es, nähmen Jordaniern die Jobs weg

Der SPD-Vorsitzende Gabriel ist in seiner Funktion als Wirtschaftsminister gekommen, um vor allem zwei Fragen auf den Grund zu gehen: Was muss hier, wo die Flüchtlingskrise ihren Ursprung hat, getan werden? Und was macht es mit einer Gesellschaft, wenn über Jahre sehr viele Flüchtlinge kommen und dann bleiben?

Im Königreich Jordanien leben knapp sieben Millionen Menschen, nach Zählung der Vereinten Nationen bietet das Land derzeit gut 680 000 Flüchtlingen Schutz, davon etwa 630 000 aus Syrien. Da relativiert sich auch die eine Million Menschen, mit denen man dieses Jahr in Deutschland rechnet.

Was seine zweite Frage angeht, die nach den Folgen für die Gesellschaft, hat Gabriel schon am Vorabend in der Hauptstadt Amman einen Eindruck von den Problemen bekommen. Da saß er mit jungen Leuten zusammen, die von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert werden, sogenannten Young Leaders, die ihm von der Lage berichteten.

Die Schilderungen fielen bemerkenswert einhellig aus, zumal hier ja nicht die sogenannten einfachen Leute sprachen, sondern solche, die man als junge Elite bezeichnen könnte. Die Syrer, hieß es immer wieder, nähmen den Jordaniern die Jobs weg.

Der Exodus "beginnt schon"

Die Leute hätten das Gefühl, es werde zu viel für die Flüchtlinge und zu wenig für die Einheimischen getan. Einer der Teilnehmer erklärte sogar, man hätte die Syrer nie aus den Camps herauslassen dürfen und solle sie am besten dorthin zurückbringen.

Es waren Ängste und Befürchtungen, wie sie derzeit auch in Deutschland geäußert werden. Nur dass in Jordanien, gemessen an der Bevölkerung, viel mehr Flüchtlinge leben, als in diesem Jahr nach Deutschland kommen. Und das bereits seit Jahren.

Was Gabriel am nächsten Tag im Camp sieht, gibt ebenfalls nicht allzu viel Anlass zur Hoffnung. Ja, es funktioniert all das, was er hier im Schnelldurchlauf gezeigt bekommt, die medizinische Versorgung, der Supermarkt, die Schule, in der viele kleine Mädchen sitzen und ihn ansehen.

Aber ein Drittel der Kinder hier geht eben nicht zur Schule, manche sprechen sogar von der Hälfte. Das Welternährungsprogramm hat die Mittel gekürzt. Vor allem: Wo ist hier die Perspektive? Ein UN-Helfer berichtet Gabriel, dass sich etwas Entscheidendes verändert habe: Früher habe hier kaum jemand darüber geredet, nach Europa zu gehen. Nun redeten immer mehr darüber.

Vom Besucher auf den Arm genommen

Gabriel sagt, der Exodus "beginnt schon". Die Menschen hier hätten offenbar die Hoffnung verloren. Deutschland müsse versuchen, "noch mehr Hilfe für Flüchtlingscamps zu mobilisieren". Auch die USA müssten sich stärker engagieren, sie seien "nicht unmaßgeblich Mitverursacher der Flüchtlingskrise".

Europa, die USA und die Golfstaaten sollten jeweils 1,5 Milliarden Euro beisteuern, um die Region zu unterstützen und sie zu stabilisieren.

Am Ende klatscht Gabriel die Hand eines kleinen Jungen ab, einen noch kleineren nimmt er auf den Arm. Das Bild dürfte sich schnell verbreiten. So wie die Geschichte der Familie, die Gabriel hier herausholen will.

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