Wenn Sigmar Gabriel öffentlich auftritt, stehen üblicherweise mehrere Stimmungslagen zur Auswahl. Es gibt den knurrigen Gabriel, den nachdenklichen, den mitreißenden Gabriel. Am Dienstagmorgen aber ist Gabriel einfach nur ein Mann, der mit den Tränen kämpft. Dem Vizekanzler versagt kurz die Stimme.
Gabriel steht im Flüchtlingscamp Saatari, Jordanien, von hier sind es nur wenige Kilometer bis zur Grenze mit dem Bürgerkriegsland Syrien. Gerade ist er aus einem Container getreten, in dem er, auf einer Matratze sitzend, mit einer syrischen Familie geredet hat. Dem Vater fehlt ein Bein, er war, so hat er es geschildert, mit dem Auto unterwegs, als es einen Raketenangriff gab.
"Man wird demütig"
Einer seiner Söhne verlor beide Beine, ein Auge, mehrere Finger. Vater und Sohn saßen vor Gabriel, der Vater sagte, dass er nicht mehr arbeiten könne. Drei weitere Kinder habe er mit seiner Frau, die auf der nächsten Matratze saß. Da müsse man etwas tun, sagte Gabriel, er könne nichts versprechen, aber man müsse es versuchen.
Zum Abschied beugte er sich herunter, wandte sich halb an den Jungen, halb an den Übersetzer: "Er soll nicht aufgeben."
Nun steht Gabriel draußen und muss schlucken. Er fasst sich, dann sagt er in die Kamera, dass man solche Familien eigentlich hier herausholen müsse. "Es gibt keine Chance für die, hier am Leben zu bleiben."
Jemand fragt, wie all das hier auf ihn wirke, verglichen mit den Problemen, über die gerade in Deutschland geredet werde. Gabriel sagt: "Man wird demütig."
Das Flüchtlingscamp Saatari ist das größte in der arabischen Welt, eine Aneinanderreihung von Containern, Hütten und nochmals Containern, so weit man sehen kann, hingestellt in den Staub, entstanden vor mehr als drei Jahren, dann gewachsen, derzeit leben um die 80 000 Menschen hier.
Die Syrer, hieß es, nähmen Jordaniern die Jobs weg
Der SPD-Vorsitzende Gabriel ist in seiner Funktion als Wirtschaftsminister gekommen, um vor allem zwei Fragen auf den Grund zu gehen: Was muss hier, wo die Flüchtlingskrise ihren Ursprung hat, getan werden? Und was macht es mit einer Gesellschaft, wenn über Jahre sehr viele Flüchtlinge kommen und dann bleiben?
Im Königreich Jordanien leben knapp sieben Millionen Menschen, nach Zählung der Vereinten Nationen bietet das Land derzeit gut 680 000 Flüchtlingen Schutz, davon etwa 630 000 aus Syrien. Da relativiert sich auch die eine Million Menschen, mit denen man dieses Jahr in Deutschland rechnet.
Was seine zweite Frage angeht, die nach den Folgen für die Gesellschaft, hat Gabriel schon am Vorabend in der Hauptstadt Amman einen Eindruck von den Problemen bekommen. Da saß er mit jungen Leuten zusammen, die von der SPD-nahen Friedrich-Ebert-Stiftung gefördert werden, sogenannten Young Leaders, die ihm von der Lage berichteten.
Die Schilderungen fielen bemerkenswert einhellig aus, zumal hier ja nicht die sogenannten einfachen Leute sprachen, sondern solche, die man als junge Elite bezeichnen könnte. Die Syrer, hieß es immer wieder, nähmen den Jordaniern die Jobs weg.