Gabriel auf dem SPD-Parteitag:Zumutungen vom Chef

Als Sigmar Gabriel 2009 eine am Boden liegende Partei aufrichten musste, galt er noch als Hallodri der SPD. Heute steht der SPD-Chef erneut nach einer krachenden Wahlniederlage vor den Genossen. Die Leichtigkeit ist verschwunden, er verlangt den Delegierten einiges ab. Doch schnell wird klar: Beide Auftritte sind Teil eines größeren Plans.

Von Christoph Hickmann, Leipzig

Als Sigmar Gabriel am Donnerstagmittag ans Rednerpult tritt, ist er seit vier Jahren und (fast) einem Tag Vorsitzender der SPD. Vier Jahre und einen Tag vorher hat er sich schon einmal an ein Rednerpult gestellt, beim Parteitag in Dresden. Er hielt damals die wichtigste Rede seines politischen Lebens, seine Bewerbungsrede, und er gab mit dieser Rede einer gedemütigten Partei das Gefühl, dass es weitergehen könnte, irgendwie. Als er nun beim Parteitag in der Neuen Messe Leipzig die "lieben Genossinnen und Genossen" begrüßt, dürfte ihm klar sein, dass dies seine zweitwichtigste Rede sein wird.

Damals, in Dresden, hatte die SPD krachend die Wahl verloren, war ausgelaugt von elf Jahren an der Regierung und bereitete sich auf ihre Rolle in der Opposition vor. Gabriel galt als politischer Hallodri mit enormem politischen Potenzial.

Nun, in Leipzig, hat die SPD vor Kurzem krachend die Wahl verloren, knabbert auch nach vier Jahren im Abklingbecken noch an den Regierungsjahren und bereitet sich auf ihre Rolle in der nächsten Regierung vor. Gabriel gilt als politische Potenz mit einer Restneigung zum Hallodritum.

Der Acht-Jahres-Plan des Sigmar Gabriel

Es dauert nicht lang, bis klar wird, dass beide Reden, 2009 und 2013, zusammengehören, dass sie Teil eines größeren Plans sind. Man könnte ihn den Acht-Jahres-Plan des Sigmar Gabriel nennen.

In Dresden richtete er die Partei wieder auf, sie lag am Boden, und er hielt danach vieles von dem, was er versprochen hatte. Die SPD arbeitete die Regierungszeit auf und korrigierte moderat ihre Haltung zu Themen, an denen sie vorher fast zerbrochen wäre, etwa zu Teilen der Agenda 2010. Gabriel führte mehr Mitsprache für die Mitglieder ein, demnächst werden sie über die große Koalition abstimmen. Er wirbelte, häufig auch zu viel, aber er bewegte etwas, er legte ein Fundament. Am Ende brachte das trotzdem nichts. Deshalb geht es jetzt, in Leipzig, ums Durchhalten. Bis 2017. Dann wird wieder gewählt, dann tritt Angela Merkel womöglich nicht mehr an.

Deshalb ist diese Rede, die er nun in Leipzig beginnt, kein Fest wie in Dresden. Stellenweise ist sie sogar eine Zumutung, weil sie kein Appell ist, nichts Flammendes hat, sondern ein gesprochener, stellenweise nicht sonderlich sorgfältig redigierter Essay ist. Entsprechend wenig Applaus bekommt Gabriel zwischendurch.

Da ist zum Beispiel die Passage, in der er sich auf die Suche nach Gründen für die Niederlage macht. Er verwirft die einfachen Erklärungen (Kanzlerkandidat passte nicht zum Programm, Agenda 2010 wird der Partei noch immer verübelt), um dann in eine lange, mäandernde Analyse einzusteigen, an deren Ende man verpasst hat, woran es denn nun gelegen hat. Zum Glück kann man es nachlesen, das Manuskript wird verteilt: Die Deutschen wollten demnach Stabilität und erwarteten sie von Angela Merkel. Sie trauten der SPD trotz aller Mühen nicht zu, soziale Gerechtigkeit herzustellen. Außerdem, sagt Gabriel, gebe es eine "kulturelle Kluft zwischen den SPD-Repräsentanten und ihrer Wählerschaft".

Was er damit meint, erläutert er mit einem Beispiel: Seine Frau, eine Zahnärztin, habe in Goslar eine Praxis übernommen. Kurz danach habe eine Frau dort angerufen, die "sehr arm war": Ob die armen Leute nun noch kommen dürften, oder ob nur noch die Oberen behandelt würden?

Wo es brodelt, riecht und stinkt

Vor 20 Jahren, sagt Gabriel, sei er bei Betriebsbesuchen als Sozialdemokrat gesehen worden. Heute heiße es nur noch: Da kommt ein Politiker. Diese Kluft zwischen der SPD und ihren potenziellen Wählern sei für ihn "der erschreckendste Befund".

So weit die Analyse - und die Antworten? Auch da wird Gabriel sehr ausführlich, doch letztlich lässt sich das so zusammenfassen: Näher ran an die Menschen - ob sie nun Facharbeiter, Beamte oder Angestellte sind, Migranten, Frauen und so weiter. "Wir müssen wieder Teil der Gesellschaft und Teil sozialer Bewegungen sein", sagt er - etwa wenn sich Elterninitiativen gründeten, Genossenschaften.

Hier knüpft Gabriel an das meistzitierte Motiv seiner Dresdner Rede an: Die SPD, sagte er damals, müsse wieder raus ins Leben, dahin, wo es brodele, manchmal rieche und gelegentlich stinke. In Leipzig sagt er das nicht so prägnant, sondern ziselierter, und manchen in der Halle ist diese Lösung ein bisschen zu simpel - zumal man ja feststellen muss, dass die SPD in das Leben da draußen nicht allzu weit vorgedrungen sein kann. Man kann es aber auch so sehen: Regierungsjahre, wie sie jetzt vor der SPD liegen, sind nicht die Zeit für Richtungsdebatten, zudem hat sie in den Oppositionsjahren einige davon geführt. Insofern kann Gabriel ja kaum etwas anderes tun, als eine konsequentere Anwendung der bisherigen Rezepte zu empfehlen. Zudem war er ja die ganze Zeit Parteichef - also verantwortlich für diese Rezepte.

Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, dass Gabriel schon vor vier Jahren geahnt, vielleicht sogar gewusst hat: Eine Legislaturperiode würde nach dem Absturz von 2009 nicht reichen, um das Kanzleramt zu erobern, nicht wenn die Kanzlerin weiterhin keinen Fehler machen würde. Vor diesem Hintergrund muss man Leipzig als Zwischenetappe sehen: Auf die Jahre der Aufarbeitung sollen die Jahre der Bewährung folgen - in der großen Koalition.

Was die angeht, macht Gabriel es sich und seinem Publikum wiederum nicht allzu leicht. Er verzichtet auf allzu billige Punkte, um eine innere Distanz zu diesem Bündnis vorzugaukeln. Stattdessen steckt er, angefangen beim Mindestlohn von 8,50 Euro, ein paar bekannte Punkte ab, ohne die man nicht mitregieren werde.

Und Peer Steinbrück? War dann letztlich auch nicht mehr als eine Übergangslösung, ein Kandidat, für den es von Beginn an nicht viel zu gewinnen gab. Noch weniger, und das wusste Gabriel, hätte es für ihn selbst zu gewinnen gegeben. Er kannte seine schlechten persönlichen Umfragewerte sehr genau. Nun hat er ein paar Jahre Zeit, an ihnen zu arbeiten.

Genossen bestätigen Gabriel im Amt

Steinbrück verabschiedet sich mit einer viertelstündigen Rede, in der er die Verantwortung für das Wahlergebnis übernimmt und auch auf die Angst eingeht, die Kanzlerin werde die SPD in der großen Koalition klein machen. "Dafür, uns klein zu machen, sind nur wir selber stark genug. Und das ist uns gelegentlich auch gelungen." Dann ist der Kandidat Steinbrück endgültig Geschichte. Ganz vorn steht jetzt allein Gabriel. "Du bist einfach ein feiner Kerl", sagt er noch zu Steinbrück.

Knapp eineinhalb Stunden dauert seine Rede, deren Tonlage auch deshalb bemerkenswert ist, weil er sich danach zur Wiederwahl stellt. In Dresden bekam er nach einer begeisternden Rede 94,2 Prozent. In Leipzig bekommt er nach einer anstrengenden Rede 83,6 Prozent. Aber letztlich ist auch dieses Ergebnis für Gabriel nur ein Zwischenschritt.

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