Bundestagswahl:Die große Koalition ist eine unbeliebte Notwendigkeit

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Die kleinen Parteien werden immer größer. Bald könnten große Koalitionen daher zum Normalfall werden - allerdings in völlig neuer Form.

Von Kurt Kister

Wenn man in diesen Tagen Freunde, gar Mitglieder der SPD danach fragt, warum die Partei nicht so gut dasteht, fällt schnell ein Begriff: große Koalition. Merkel, so lautet das sozialdemokratische - Vorsicht, Modewort - Narrativ habe es in ihrer einlullend-besitzergreifenden Art wieder verstanden, fast alle Erfolge der großen Koalition für die Union zu reklamieren. Die SPD gehe nahezu leer aus, schlimmer noch: Zu viele Wähler sähen keine Unterschiede mehr zwischen Schwarz und Rot.

Wie an etlichen moderaten Verschwörungstheorien ist auch an diesem Narrativ etwas dran. Viele Wähler haben den Eindruck, dass sich die Koalitionsparteien politisch nahestehen; schließlich verabschieden sie gemeinsam Gesetze und regieren miteinander. Dies übrigens trifft auf große, aber auch auf andere Koalitionen zu. Grundsätzlich führt es dazu, dass sich in den Regierungsjahren Unterschiede verwischen, die dann in Wahlkämpfen mehr oder weniger glaubhaft wieder betont werden. Das gelingt oft nicht, wie man auch am Verlauf des sogenannten Kanzlerkandidaten-Duells zwischen Merkel und Schulz gesehen hat.

Die relative Stärke einer dauernden Oppositionspartei (wie etwa im Bund Die Linke) liegt auch darin, dass sie ihre Überzeugungen nie der Regierungsrealität anpassen muss. Gerät so eine Partei allerdings in Ländern oder Kommunen doch an die Macht oder an die Mitregierung, ist ihre tatsächliche Veränderungskraft so gut wie immer deutlich kleiner, als es die Veränderungsrhetorik in der Opposition nahegelegt hat. Die Entwicklung der Grünen von der einst strukturellen Oppositionspartei in den Achtzigerjahren hin zur Regierung in Baden-Württemberg mit dem überaus schwäbisch-volksnahen Daimler-Kretschmann belegt dies wunderbar.

Allerdings erklärt die Große-Koalitions-Theorie nicht, warum die SPD bei der Wahl 2013 auch nicht viel besser abschnitt als 2009. Vor vier Jahren vertrat der nach SPD-Maßstäben eher unlinke Spitzenkandidat Steinbrück ein eher linkes Programm - und das nach vier Jahren der Opposition gegen eine nicht erfolgreiche schwarz-gelbe Regierung. Die SPD hätte also deutlich besser abschneiden müssen als 2009 nach der ersten großen Koalition. Das geschah aber nicht. Bei der Wahl 2013 wurde die FDP bestraft (sie flog aus dem Bundestag), die SPD aber lag mit 25,7 Prozent nur unwesentlich besser als 2009. Seitdem 2005 die Schröder-SPD mit sehr achtbaren 34,5 Prozent knapp die Wahl verlor, dümpelt die Partei bundesweit im 25-Prozent-und-weniger-Bereich dahin - egal ob sie vorher in der großen Koalition mitregierte oder opponierte. Seitdem der brave Spitzenkandidat Frank-Walter Steinmeier bei der Wahl nach der ersten großen Koalition mit der Merkel-CDU 2009 gerade mal 23 Prozent holte, gilt dies als sozialdemokratische Horrorgrenze. Wenige Tage vor der jetzigen Wahl fürchten viele Sozialdemokraten, dass Schulz diese Horrorgrenze noch einmal unterschreiten könnte.

Angela Merkel führt Allianzen jeder Art mit uneitler Effizienz und gelegentlich leiser Brutalität

Unter "große Koalition" wird in Deutschland zumeist immer noch ein Bündnis aus Union und SPD verstanden. Dem Wortsinn nach ist eine große Koalition allerdings zunächst nur eine Allianz jener beiden Parteien, die im jeweiligen Parlament die meisten und die zweitmeisten Sitze haben. In der Bundesrepublik waren das in den Ländern und im Bund über Jahrzehnte hinweg immer CDU und SPD (auch in Bayern, wo die regionale CDU den Namen CSU trägt). Diese klassischen Mehrheitsverhältnisse haben sich mancherorts verschoben, meistens im Osten und auf Kosten der SPD. In Sachsen oder Thüringen bestünde eine große Koalition im Wortsinn aus CDU und Linkspartei; in Mecklenburg-Vorpommern gar aus SPD und AfD. In Stuttgart regiert schon eine große Koalition aus Grünen und CDU.

Nach 1949 gab es in der Bundesrepublik dreimal eine große Koalition im Bund; in der DDR einmal. Letzteres ist fast schon in Vergessenheit geraten: Der erste und einzige Nachwende-Ministerpräsident der DDR, Lothar de Maizière, stand einen Teil seiner kurzen, halbjährigen Amtszeit einer Regierung aus der CDU-artigen Allianz für Deutschland, der SPD und den Liberalen vor.

Die erste große Koalition in Bonn gab es, als im Oktober 1966 die FDP aus der schwarz-gelben Regierung von Ludwig Erhard austrat. Der CDU blieb nichts anderes übrig, als unter dem neuen Kanzler Kurt Georg Kiesinger die große Koalition zu suchen. Weil dieses Bündnis zu dieser Zeit etwas Historisches an sich hatte - der Anti-Nazi und Exilant Willy Brandt wurde Vizekanzler des Ex-NSDAP-Mitglieds Kiesinger - bekam es den Eigennamen Große Koalition. Wenn man also diese Kiesinger-Brandt-Koalition meint, schreibt man von der Großen Koalition. Alle anderen solchen Bündnisse sind nur große Koalitionen. Der SPD übrigens bekam die Große Koalition damals nicht schlecht. Mit ihr bewies sie ihre Regierungsfähigkeit im Bund. In den Sechzigerjahren misstrauten viele den Sozialdemokraten immer noch so sehr, dass sie Brandt und die Seinen nicht einmal für regierungsfähig hielten. Bei der Wahl 1969 reichte es jedenfalls der Union nicht zur absoluten Mehrheit; die FDP wollte nicht mehr mit ihr koalieren. Es folgte die sozialliberale Ära, die erst im Oktober 1982 durch den Abgang der FDP und das Misstrauensvotum gegen Kanzler Schmidt zu Ende ging.

Die beiden anderen großen Koalitionen im Bund - 2005 und 2013 - sind im Vergleich zur Großen Koalition Gegenwart. Beide wurden von Angela Merkel geführt, die wie kein anderer Kanzler vor ihr die Fähigkeit hat, mit uneitler Effizienz und gelegentlich leiser Brutalität Allianzen jeder Art zu leiten, solange sie die Chefin bleibt. Auch wenn sie jüngst im Bundestag beteuerte, die SPD habe "echt nichts" gegen ihren Willen, also gegen den der Kanzlerin, durchgesetzt in der großen Koalition, wurde sie dennoch nie von jener öffentlich zur Schau getragenen Mein-Boot-mein-Auto-meine-Regierung-Mentalität getrieben, die man bei anderen Spitzenpolitikern und Topmanagern oft findet. Fragt man sie, ob es ihr denn nichts ausmache, wenn der Gabriel dies und das für sich beanspruche oder der Seehofer den immer noch testosteronstarken Alpenlarry gebe, zieht sie bestenfalls die Mundwinkel noch weiter herunter und zuckt mit den Schultern. Soll heißen: Lass sie doch, die Kanzlerin bin und bleibe trotzdem ich.

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