An diesem Mittwoch um 16 Uhr tritt in Hamburg der Innenausschuss der Bürgerschaft zusammen, es gilt einen Polizeieinsatz aufzuarbeiten, der seit zehn Tagen die Republik beschäftigt.
Innensenator, Polizeipräsident, der Einsatzleiter und der verantwortliche Polizeiführer für das Schanzenviertel, das rund um das linke Zentrum "Rote Flora" während des G-20-Gipfels besonders im Fokus stand, sollen den Abgeordneten Rede und Antwort stehen. Aber auch zehn Tage nach dem Geschehen werden Fragen offen bleiben.
Detailliert wurde der Einsatz in den vergangenen Tagen aufgearbeitet, viele der Beamten wurden noch einmal befragt, Einsatzberichte ausgewertet. Die Polizei hat inzwischen erkannt, dass sie gleich zwei Mal die Situation falsch einschätzte: Zunächst am Freitagmorgen, als einige Autonome randalierend durch Altona zogen und Fahrzeuge in Brand steckten. Dabei war die Polizei laut Lageeinschätzung davon ausgegangen, dass diese eher versuchen würden, den Gipfel selbst zu stören, etwa eine der Kolonnen eines Staats- oder Regierungschefs zu blockieren. Am besten die von US-Präsident Donald Trump. Auch ein Angriff im Hafen schien möglich. Gewalt irgendwo in der Stadt aber galt als weniger wahrscheinlich.
Ähnlich falsch war die Einschätzung noch einmal am Abend: Die Polizei dachte, dass die Autonomen nicht ihr eigenes Wohnzimmer, die Schanze, verwüsten würden. Die Gewalt würde der Polizei gelten - nicht dem Viertel. Keine Polizeipräsenz, keine Gewalt - so lautete die Annahme der Einsatzstrategen, die sich später als grober Irrtum herausstellen sollte. Deshalb hatte die Polizeiführung bewusst keine starken Einsatzkräfte in die Schanze geschickt. Man wollte den Eindruck vermeiden, dass die Staatsmacht das Szene-Viertel besetzt.
Bewohner der Schanze alarmierten die Polizei
Wie dann die Gewalt ausgerechnet dort eskalierte, wird wohl im Mittelpunkt der heutigen Innenausschuss-Sitzung stehen. Inzwischen steht fest, dass gleich mehrere Einheiten gegenüber Einsatzleiter Hartmut Dudde Bedenken äußerten, überhaupt in das Schanzenviertel einzurücken. Dass gegen Duddes Anweisung formell protestiert, "remonstriert" wurde, bestreitet die Hamburger Polizei, obwohl eine der bayerischen Einheiten sogar das Innenministerium in München informierte. Kurz nach 22 Uhr hatte Dudde angeordnet, dass man nun einrücken solle. Plünderungen hatten begonnen, Bewohner der Schanze alarmierten die Polizei, Feuer brannten.
Bedenken gegen dieses Einrücken hatten auch die sogenannten "Aufklärer", die seit Stunden in Zivil in der Schanze unterwegs waren. Denn bei den Beamten bestand die Befürchtung, dass die Randalierer genau dies geplant hatten: Durch Plünderungen würden Autonome die Polizei bewusst ins Viertel hineinlocken, in einen Hinterhalt.
Nach 22 Uhr verlangten die Aufklärer allesamt, aus der Schanze abgezogen zu werden, der Einsatz schien ihnen zu riskant zu sein. Die Aufklärer sind sogenannte "Tat-Beobachter" aus Beweissicherungs- und Festnahme-Einheiten. Sie sollen sogenannte Rädelsführer ausfindig machen und ihre uniformierten Kollegen später mit den notwendigen Hinweisen für eine Festnahme versorgen.
Dudde entschied sich aufgrund dieser Befürchtungen, nicht die normalen Einheiten in die Schanze zu schicken, sondern zunächst Spezialeinheiten anzufordern. Der Einsatzabschnitt "Intervention" wurde alarmiert. Das dauerte, denn diese Spezialkräfte waren, teils auf Motorrädern oder gar Fahrrädern, über die ganze Stadt verteilt. Ihr Auftrag war eigentlich die Terrorabwehr. Sie waren dafür abgestellt, jeden bewaffneten Attentäter binnen kürzester Zeit unschädlich zu machen. Eine Mission, die sich für manche auch in Jeans und T-Shirt erledigen ließ. Als der Auftrag kam, stattdessen in der Schanze gegen Steinewerfer und Plünderer vorzugehen, mussten die Spezialisten zunächst ihre schwere Ausrüstung holen und sich umziehen. So verging Zeit, während derer im Schanzenviertel weiter ungehindert die Gewalt tobte.
Stimmten die Befürchtungen der Polizei? Wartete wirklich ein "bewaffneter Hinterhalt" auf sie, eine potenziell tödliche Falle? Zu den bemerkenswertesten Umständen zählt, dass bis jetzt unklar ist, was tatsächlich auf den Dächern des Schanzenviertels geschehen ist, welche Ausmaße die Bedrohung also wirklich hatte. Die Polizeiführung hat davon gesprochen, insgesamt 36 Personen hätten sich auf Dächern in luftiger Höhe verschanzt mit einer Munition aus eigens hinaufgeschleppten Gehwegplatten und Molotow-Cocktails. Einsatzleiter Dudde hat der Presse zum Beleg hierfür ein grobkörniges Wärmebild-Video vorgezeigt, das aus einem Polizeihubschrauber aufgenommen wurde und den mutmaßlichen Abwurf eines Molotow-Cocktails zeigen soll, der beim Aufprall auf den Boden nicht explodiert sei.
Inzwischen sind Zweifel aufgekommen, ob es sich dabei tatsächlich um einen Brandsatz handelte und nicht etwa um eine Bengalo-Fackel oder einen Böller. Ein Gruppenführer, der zu dieser Zeit mit seiner Einheit am Boden stand, erinnert sich nicht daran, dass ein Molotow-Cocktail herabgefallen, zersprungen, aber nicht in Flammen aufgegangen ist. Spuren hiervon seien am Boden nicht gesichert worden. Andererseits: "Da war alles andere wichtig als Spurensicherung."
Als schließlich gegen 23.30 Uhr das schwer bewaffnete Spezialeinsatzkommando (SEK) das Haus mit der Adresse Schulterblatt 1 erreichte und die fünf Stockwerke hinauf stürmte, brachen die Beamten Türen auf und warfen sogenannte "Irritationssprengkörper", wie sie sonst nur gegen Terroristen oder Entführer zum Einsatz kommen. Aber Spurensicherung? Dafür sahen sich die SEK-Leute nicht zuständig. Ebensowenig das Unterstützungskommando (USK), das schwer gepanzert unten auf der Straße stand und den Bereich absicherte.
Ganze Waschkörbe mit Einsatzberichten
In Hamburg wird zwar betont: Man habe den Polizisten beim Sturm des Hauses eine klare Anweisung erteilt. Man möge auf den Dächern alle Beweismittel sicherstellen. Aber bisher, so heißt es bei der Hamburger Polizei, habe man weder einen Bericht über die Sicherstellung entsprechender Gegenstände gefunden oder auch nur ein Bild, das die vermeintlichen Brandsätze oder Reste von Wurfgeschossen zeigt.
Dabei haben die Beamten vor der anstehenden Innenausschuss-Sitzung genau danach intensiv gesucht. Die Innenbehörde hat gleich mehrfach danach gefragt. Die Suche dauert noch an, es gebe ganze Waschkörbe mit Einsatzberichten heißt es bei der Polizei, es dauere einfach.
Nicht ausgeschlossen ist also, dass die entsprechenden Beweise noch auftauchen. Im Innenausschuss wollen die Beamten jedenfalls neues Bildmaterial aus ihren Hubschrauber-Kameras zeigen. Nicht ausgeschlossen ist aber auch, dass es Beweise für Molotowcocktails und andere gehortete Waffen nicht gibt und auf den Dächern der Schanze viel weniger Ausnahmezustand herrschte, als die Polizei annahm. Oder haben die Randalierer sie noch beiseite schaffen können? Nur wohin? Und so schnell?
Sollte sich die Polizei in ihrer Befürchtung eines "bewaffneten Hinterhalts" getäuscht haben, wäre dies allein noch keine Verfehlung. Die Lage war unübersichtlich, die Einsatzleiter haben sich für Vorsicht entschieden. Dass man hinterher klarer sieht, ist normal. Es würde aber ein anderes, ein deutlich weniger dramatisches Licht werfen auf die Gewalt aus den Reihen der Autonomen an jenem Abend. In der Hamburger Polizei heißt es, die Autonomen hätten eine "effektive Gegenaufklärung" betrieben, schnell hätte sich herumgesprochen, dass Spezialkommandos in die Schanze eingerückt seien - und dann habe man Beweise weggeschafft.