Wenn 24 Mannschaften in den kommenden vier Wochen in Deutschland um den Titel Europameister spielen, soll das viel mehr als ein Fußballturnier werden: Die zehn Städte, die sich mit ihren Stadien erfolgreich als Austragungsort der Europameisterschaft beworben haben, hoffen, dass viele Einwohner und Besucher das Großevent auch außerhalb der Stadien feiern, und lassen sich das einige Millionen Euro kosten. Wie präsent ist die EM kurz vor Anpfiff zwischen Berlin und München? Ein Rundgang.
Berlin
Berlin und die Spitzenpolitiker der Union, das ist ein kompliziertes Verhältnis. Die Tirade des CDU-Chefs Friedrich Merz über Kreuzberg ist ja bereits Legende – so wie auch die Bemerkung von Markus Söder, Vorsitzender der CSU, zur „Chaos-Stadt“ Berlin. Jetzt hat sich der ehemalige Gesundheitsminister Jens Spahn freien Lauf gelassen und kritisierte in der Rheinischen Post die Fanmeile vor dem Brandenburger Tor. „Es nervt die Leute“, sagte er. „Und es macht die Stimmung nicht besser in einer Zeit, in der eh schon alle gereizt sind.“ Es ist ja auch tatsächlich etwas irre, was da passiert: 24 000 Quadratmeter Plastikrasen sind auf der Straße des 17. Juni verlegt worden, die größte Fanmeile der Welt, wie es heißt. Zugleich wurde der Tiergarten drum herum mit seinen Grünflächen abgeriegelt. Die Staus, die dadurch entstehen, würden „auch nicht zu Wirtschaftswachstum führen“, merkte Jens Spahn noch an. Doch wenn der Politiker aus Ahaus bei Münster meinte, mit seinen Bemerkungen den Nerv der Berliner zu treffen, dann hat er sich geirrt: Die ließen sich bislang die Laune nicht verderben. Nicht einmal vom Belagerungszustand der Innenstadt durch den Besuch des ukrainischen Präsidenten Wolodimir Selenskij. Zur Eröffnungsshow der Fan-Zone kamen am Mittwochabend dann 30 000 Besucher zum Brandenburger Tor. „Erfreulich ruhig“ sei es gewesen, sagte ein Polizeisprecher der Berliner Zeitung. Die Berliner sind also gar nicht so „gereizt“, wie Spahn vermutete. Anders als vielleicht so mancher Politiker aus der Union.
Düsseldorf

Die Düsseldorfer Altstadt ist hochgerüstet für die vierwöchige Belagerung: Gleich drei Fan-Zonen umstellen die vorgeblich „längste Theke der Welt“ (Eigenwerbung), allein auf dem Uferstreifen der alten Rheinwerft werden sich an Spieltagen knapp 8000 Menschen drängen. „Wer da zu wild jubelt, fällt übers Geländer in den Fluss“, frotzelt ein junger Passant. In den Gassen der Altstadt warten 250 Kneipen, Restaurants und Bars auf die Fans, auch während der Spiele: Viele Lokale – mehr als in einer Karte der Düsseldorfer Stadtwerbung vermerkt – buhlen mit Flachbildschirmen um Kundschaft. Vergleichsweise bescheiden fällt die TV-Versorgung in den Altbier-Brauereien aus: Zwei oder drei Monitore würden vielleicht noch aufgestellt am Freitag, sagt ein Köbes (Kellner) im Dunst von Sauerkraut und Würsten, „aber die Fans bringen nicht viel ein, die trinken ja nur. Achtzig Prozent unserer normalen Gäste bestellen was zu essen“. Die Altstadt ist bereit, auch der Bestatter in der Andreasstraße: Düsseldorfs ältestes Unternehmen des Trauergewerbes begreift sein Tun nun mal „als Dienst am Leben“ und hat die Auslage umgeschmückt: Auf einer schwarz-rot-goldenen Fahne steht ein ballrundes Gefäß, weiß mit schwarzen Fünfecken drauf – die „Fußball-Urne“.
Hamburg

Der Hamburger Hauptbahnhof ist nicht dafür bekannt, ein einladender Ort zu sein. Selbst wenn nicht gerade Fußball-EM ist, herrscht an den Gleisen ein Gedränge wie im Strafraum bei Eckstoß in der Schlussminute. Die sogenannte Wandelhalle verleitet nicht zuallererst zum Shoppen, sondern zum Nachdenken über Hamburgs Kapitulation vor Wohnungslosigkeit und Drogensucht. Das soll sich nun ändern. 40 zusätzliche Reinigungskräfte werden während des Turniers für Sauberkeit sorgen, 30 Techniker dafür, dass die Rolltreppen tatsächlich rollen. 6000 Beamte der Bundespolizei und 5400 Sicherheitskräfte der Deutschen Bahn lenken die Besucherströme und werden verhindern, dass die drei Meter große Nachbildung des EM-Pokals in der Wandelhalle noch vor Anpfiff eingeschmolzen wird. Als Empfangskomitee angekündigt hat sich auch Maskottchen „Albärt“. Es wird daran zu erkennen sein, dass es eine Hose trägt, und daran erinnern, dass in den kommenden vier Wochen alle irgendwie Gewinner sind: Auch weil Deutschlands zweitgrößte Stadt mit etwas Glück einen funktionierenden Bahnhof bekommt.
Leipzig

Dass die Stadt ein guter Austragungsort für Spiele der Fußball-EM sein würde, erkennt man schon beim Blick auf Leipzigs Wahrzeichen: Mit etwas Fantasie ähnelt das Völkerschlachtdenkmal dem Coupe Henri Delaunay, der Trophäe für den Sieger des Turniers, die Heidi Beckenbauer am Freitagabend in die Münchner Arena tragen wird. Bis der Pokal Mitte Juli vergeben wird, muss sich der Fußball in der Leipziger Innenstadt erst einmal gegen die Hochkultur behaupten. Eingerahmt ist die Fan-Zone auf dem Augustusplatz vom Gewandhaus auf der Süd- und dem Opernhaus auf der Nordseite des Platzes. Etwa 15 000 Zuschauer können hier vor zwei Bildschirmen (84 und 21 Quadratmeter groß) zusammenkommen. Wer es eine Nummer kleiner mag, ist in der Karl-Liebknecht-Straße („Karli“) besser aufgehoben, wo sich Kneipe an Kneipe reiht. Womöglich auch bald draußen: Vor einer Shisha-Bar konnte man diese Woche zwei Mitarbeiter dabei beobachten, wie sie versuchten, einen Fernseher in eine Wandhalterung zu spannen. Vorerst scheiterten die beiden Barkeeper und trugen das Gerät, an dem noch die hellblaue Folie klebte, wieder rein. Noch rollt der Ball ja nicht.
München

Wem es in München trotz der kaum zu übersehenden EM-Beflaggung und EM-Plakatierung bislang entgangen war, dass hierzulande in den nächsten Wochen eine Fußball-EM stattfindet, merkte es spätestens am Donnerstag: Da fielen Tausende von Schotten in die Stadt ein und eroberten die Fußgängerzone. Die meisten trugen karierte Röcke, fast alle waren blau. Dunkelblau, um genau zu sein: Das ist die Farbe ihres Nationaltrikots. Etwa 15 000 Schotten haben Karten gekauft, um ihre Mannschaft am Freitag im Eröffnungsspiel gegen die deutsche Auswahl zu unterstützen; etliche Tausend mehr sind einfach so gekommen, um zu feiern. „No Scotland, no party“, sangen sie schon mittags im Chor, vor dem Donisl am Marienplatz zum Beispiel. Eine fröhliche Einstimmung auf die EM, mit ihrer guten Laune haben die Schotten den Ton für dieses Turnier gesetzt, zumindest in München. Die Stadt ist vorbereitet auf die Fans aus Europa und heißt sie willkommen; die Behauptung, München mache die Schotten dicht, ist gerade eher in einem anderen Kontext zu verstehen. Im Olympiapark ist die offizielle Fan-Zone mit drei Großleinwänden eingerichtet, Kapazität: 25 000 Menschen. Im Grunde kann man aber in den meisten Biergärten und in vielen Gaststätten die EM schauen. Nur die Schotten wird man so schnell nicht wieder sehen: Die reisen ihrer Mannschaft hinterher, Köln und Stuttgart dürfen sich schon mal auf sie freuen.
Stuttgart

Es ist sicher nicht ohne Risiko, den Erfolg der deutschen Nationalmannschaft mit der Stuttgarter Verkehrsinfrastruktur zu verknüpfen. Auf diesem Gebiet hat die Stadt seit dem Baubeginn des Bahnhofs Stuttgart 21 einen sehr hartnäckigen Negativlauf. Umso kühner mutet das jüngste Vorhaben an, mit dem Oberbürgermeister Frank Nopper die Einzigartigkeit des Spielorts Stuttgart hervorheben will: In sämtlichen Straßenbahnen, Bussen und sogar an Haltestellen soll bei jedem deutschen Tor das Lied „Major Tom“ erklingen – die offizielle deutsche Tor-Hymne. Geschrieben hat das Lied vor mehr als 40 Jahren Peter Schilling, ein gebürtiger Stuttgarter. Die Idee hat also einerseits lokalpatriotischen Charme. Wer möchte, kann in der flächendeckenden Beschallung vielleicht sogar Spurenelemente des landestypischen Protestgeists erkennen. Im Stadion selbst darf „Major Tom“ schließlich nicht unmittelbar nach einem Tor gespielt werden, Vorschrift der Uefa, die einen eigenen EM-Song hat. Völlig losgelöst von der Regel sind allerdings öffentliche Busse und Bahnen. Dort soll es in Stuttgart deshalb umso lauter werden. Fehlt nur noch: ein deutsches Tor.