Süddeutsche Zeitung

Fukushima und die Folgen:Japans Verkrustung

Japan war schon in der Krise bevor der Tsunami kam: Der Staat hochverschuldet, die Politik nicht mehr handlungsfähig, die Gesellschaft apathisch, die Bevölkerung überaltert. Und bei der Sicherheit der AKW wurde massiv geschlampt, es gab nicht einmal Notfallpläne. Fukushima könnte eine epochale Wende einleiten. Wenn die Japaner die Katastrophe als Zeichen begreifen.

Christoph Neidhart

Gemüse ist nun verstrahlt, es muss Milch vernichtet werden. Und sogar in Tokio ist das Trinkwasser leicht verseucht. Aber Japan steckte schon vor der Havarie von Fukushima in einer Krise.

In der japanischen Politik herrscht seit langem ein Patt. Premier Naoto Kan war nicht mehr handlungsfähig, die Opposition außerstande, das Steuer zu übernehmen. Der Staat ist hochverschuldet, die Gesellschaft gespalten: Tokio ist reich, die Provinz wird ärmer. Ein Drittel der jungen Leute findet keine ordentliche Anstellung, die Bevölkerung ist überaltert, die Zahl der Japaner schrumpft. In vielen der nun zerstörten Dörfer gab es keine jungen Leute mehr. So konnte es in Japan nicht weitergehen.

Wird Fukushima im Land nun als Zeichen erkannt? Werden die Japaner das Unglück als epochale Zäsur verstehen? In Tschernobyl stand die Katastrophe am Beginn des Untergangs der Sowjetmacht, mit dem Reaktorunglück begann die Erneuerung von Russland und der Ukraine. Aber Japan ist nicht die Sowjetunion. Japan ist eine offene, reiche, pluralistische Gesellschaft, keine diktatorische. Das Land funktioniert - besser als die meisten anderen Staaten. Seine Industrien sind Spitze. Es gibt wenig Repression und keine Zensur. Die meisten Japaner waren zufrieden.

Doch gleichzeitig hat das bisherige Japan mehr mit der Sowjetunion gemeinsam, als es auf den ersten Blick scheint. Japan ist auch ein Produkt des Kalten Krieges und in seiner mentalen Verfassung in dieser Zeit steckengeblieben.

Bis 2009 war im Land eine Monopolpartei an der Macht, die Liberaldemokraten (LDP). Sie kungelte mit der Wirtschaft und durchdrang alle politischen Strukturen bis in die Provinz. Diese Machtposition erreichte sie nicht durch Repression, sondern mit Hilfe hoher Subventionen und institutionalisierter Korruption. Parlamentarier gingen nicht nach Tokio, um ihre Region zu vertreten, sondern um möglichst viel Geld nach Hause zu bringen.

In Japan wird regelmäßig gewählt. Aber die Kontrolle der Macht durch die Wähler und die Medien hat bisher versagt. Nach Tschernobyl musste die Sowjetunion noch im gleichen Jahr die Zensur lockern - zu viel war verschwiegen und vertuscht worden. Michail Gorbatschow nannte das "Glasnost". In Japan gibt es keine Zensur, jedenfalls keine staatliche, die Leitmedien haben sich bisher freiwillig gleichgeschaltet. Sie waren nicht die vierte Gewalt, sondern das vierte Bein der Macht. In den Tagen, in denen viele Überlebende des Tsunami schier erfroren und die Welt Zeuge wurde, wie unvorbereitet und stümperhaft die Betreibergesellschaft Tepco und die Regierung die Reaktoren unter Kontrolle zu bringen suchten, begannen die Medien plötzlich scharfe Fragen zu stellen. Und zumindest implizit anzuklagen.

Zum Desaster von Fukushima hat die Betreibergesellschaft Tepco beigetragen, indem sie bei den Sicherheitsstandards pfuschte. Die Dieselgeneratoren zur Notkühlung waren seit Jahren nicht getestet worden, vielleicht waren sie kaputt, bevor der Tsunami zuschlug. Geschlampt haben aber auch die Beamten - seit Jahren. Sie ließen ihren Freunden von Tepco Versäumnisse und Fälschungen durchgehen, verletzten ihre Kontrollpflicht. Und schlugen alle Warnungen der Kritiker in den Wind, wonach diese Kraftwerke nicht sicher seien. Dabei steht in Japan Sicherheit über allem.

Mit einem Erdbeben und einem Tsunami dieser Stärke konnte man nicht rechnen, heißt es jetzt. Doch, man konnte: 1896 und 1933 erschütterten ähnlich starke Beben den Seeboden. Und die Tsunami-Wellen waren damals bis zu 28 Meter hoch. Dennoch befand Tepco es nicht für nötig, Tsunami-Sperren zu bauen.

Kan erklärte schon am 12. März den nuklearen Notstand. Aber er unterstellte Tepco erst drei Tage später der staatlichen Aufsicht, nach vier Explosionen. Erst am 16. März ließ die Regierung die Menschen in der Umgebung evakuieren. Amerikanische Hilfe zur Kühlung der Reaktoren lehnte Kan ab. Bis wirksam gekühlt wurde, verstrichen sechs Tage. Dann wurden im Land der Industrieroboter Arbeiter, Feuerwehrleute und Hubschrauber in die Strahlenhölle geschickt. Japan verfügte über keine Mittel für eine AKW-Havarie, noch nicht mal über Notfallpläne.

Erdbeben und Tsunami waren Naturkatastrophen. Für die nukleare Katastrophe tragen Tepco und alle Regierungen, die mit Tepco unter einer Decke steckten, die Verantwortung. Die Regierung Kan trifft doppelte Schuld, weil sie viel wertvolle Zeit vergeudete.

Das Machtmonopol der LDP wurde vor anderthalb Jahren geknackt, als Kans Demokraten die Unterhauswahlen gewannen. Damals war die Hoffnung in Japan groß. Aber Kan, Hatoyama und Konsorten entpuppten sich als schlechte Kopie der LDP-Funktionäre.

Wird Fukushima also am Anfang jener Erneuerung stehen, die Japan tatsächlich braucht? Die Medien scheinen schon wieder zahmer, die meisten Menschen in den Ballungsräumen sind politisch apathisch, die zerstörte und nun auch verstrahlte Nordostküste hat in Tokio keine Stimme. Und eine intellektuelle Gegenöffentlichkeit gibt es in Japan nicht. Die Politik kennt keinen Gorbatschow.

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SZ vom 25.03.2011/olkl
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