Süddeutsche Zeitung

Leben nach der Fukushima-Katastrophe:"Es gibt noch keinen konkreten Zeitplan"

  • Japan war zu optimistisch, was die Aufarbeitung der Folgen von Fukushima betrifft.
  • Vor acht Jahren schmolzen drei Reaktorkerne in dem Atomkraftwerk. Der Vorfall zeigte die kaum kalkulierbaren Risiken nuklearer Energie.
  • Premierminister Shinzo Abe hält die Fiktion aufrecht, die Folgen der Katastrophe von Fukushima seien in 40 Jahren bewältigt. Aber der Rückbau von Fukushima Daiichi (I) hat erst begonnen.

Von Christoph Neidhart, Fukushima

Hideki Yagi deutet auf das wuchtige Gewölbe, das über dem Dach des zerstörten Reaktorblocks 3 errichtet wurde. "Dort drin steht ein Kran, mit dem wir die verbrauchten Brennstäbe aus dem Abklingbecken bergen", erklärt der Nuklearingenieur. Es ist sein Job, Experten, Politiker und Journalisten durch das Labyrinth aus Industrie-Ruinen, Wassertanks, Mülllagern und Baustellen zu führen, als das sich das Kernkraftwerk Fukushima I heute, acht Jahre nach der Atomkatastrophe, zeigt. "Risiko-Kommunikator" Yagi soll verdeutlichen, welche Fortschritte die Betreiberfirma Tepco seit dem Super-GAU gemacht hat. Yagi beklagt sich nicht, aber stellt doch klar, dass er sich die letzte Wegstrecke seiner Laufbahn anders vorgestellt hatte. "Mir wäre nie eingefallen, dass ich einmal im Rückbau arbeite", so der Mittfünfziger.

Interne Studien hatten den AKW-Betreiber Tepco vor dem Tsunami-Risiko gewarnt

Rückbau - das heißt in Fukushima: aufräumen, versiegeln, abreißen. Derzeit arbeiten 4260 Menschen auf dem Kraftwerksgelände, im ersten Jahr waren es bis zu 8000. Die Panik der ersten Monate ist der Alltagsroutine gewichen. Im "seismischen Isolationsgebäude", wie das Hauptquartier heißt, gehen die Arbeiter routiniert durch die Sicherheitsschleusen, sie werden ärztlich überwacht, tragen Dosimeter. Ihnen stehen freundliche Garderoben und Duschen, Ruheräume, Getränkeautomaten und eine Kantine zur Verfügung: Tepco versucht, Normalität zu schaffen. Doch Normalität ist unvorstellbar an einem Ort wie Fukushima - einem Ort, an dem die Trümmer einer Atomkatastrophe aufgeräumt werden müssen.

Premierminister Shinzo Abe, der schon vor sieben Jahren behauptet hat, man habe Fukushima I "im Griff", hält die Fiktion aufrecht, die Folgen der Katastrophe seien in 40 Jahren bewältigt. Um den Fortbestand von Japans Atomwirtschaft vor allem für den Export zu sichern, will er beweisen, dass sich selbst ein Super-GAU bewältigen lasse. Dabei haben die Konzerne Hitachi und Mitsubishi kürzlich AKW-Projekte in Großbritannien und in der Türkei aufgegeben, wegen der Risiken und der Kosten. Westinghouse, Atom-Tochter von Toshiba und Japans dritten AKW-Bauer, ist pleite. Trotz Abes Bemühen ist Japan de facto raus aus dem AKW-Geschäft.

Was am 11. März 2011 in Fukushima geschehen war, hatte die kaum kalkulierbaren Risiken der Atomkraft mit einem Schlag gezeigt. Ein Erdbeben der Stärke neun hatte den Nordosten Japans erschüttert, das seismische Zentrum lag im Meer vor der Sanriku-Küste. Das Seebeben löste einen Tsunami aus, dessen Flutwelle sich vor dem AKW auf 15,5 Metern Höhe aufgetürmt hatte. Wie stark allein das Beben die Kraftwerksanlagen, vor allem den Reaktor 1, beschädigt hatte, bleibt umstritten. Sicher ist, dass es die Stromversorgung der Kühlung unterbrochen hat. Die Fluten zerstörten dann auch die Notstromaggregate: Ohne jede Kühlung schmolzen die Reaktorkerne der Blöcke 1, 2 und 3.

Tepco war bis dahin ein angesehenes Unternehmen, Sparer schätzten seine Aktien und Anleihen. Damals wusste niemand, dass die Tepco-Spitze anderthalb Jahre zuvor in einer internen Studie vor den Risiken eines Tsunamis mit dieser Fluthöhe gewarnt worden war: die Reaktoren 1 bis 4 standen nur elf Meter über dem Wasserspiegel. Tepco reagierte nicht. Japans Wirtschaft und Politik hatten die Kernenergie als absolut sicher beschworen, obwohl es bereits zu Störfällen gekommen war. Im Juli 2007 schrammte Tepco nach dem Chuetsu-Erdbeben im AKW Kashiwazaki-Kariwa knapp am Atomunfall vorbei. Dennoch glaubten die Tepco-Leute an ihr Mantra absoluter Sicherheit: Es gab keine Notfallpläne, weil man die Bevölkerung nicht verunsichern wollte.

Auch nach dem Super-GAU verweigerte Tepco Transparenz: Die Reaktorkerne hatten wenige Stunden nach dem Erdbeben zu schmelzen begonnen, Luftmessungen der US-Armee zeigten eine Kernschmelze an. Gleichwohl behauptete Tokio noch Monate, es habe keine Kernschmelze gegeben. In den Tagen nach dem Super-GAU kam es dann im AKW zu Wasserstoffexplosionen, Reaktordächer wurden abgesprengt, radioaktive Iod- und Cäsium-Isotope traten aus. Die radioaktive Wolke verseuchte die Region. Tepco war völlig überfordert, wollte sein gesamtes Personal abziehen: Es wollte die strahlende Ruine sich selbst überlassen, wie sich der damalige Premier Naoto Kan später erinnerte. Die Tepco-Bosse bestreiten das, gegen drei von ihnen läuft derzeit ein Gerichtsverfahren.

Vor einer noch größeren Katastrophe haben das Land dann wohl auch nicht die Manager und Politiker gerettet, sondern die "Fukushima-50": AKW-Chef Masao Yoshida ignorierte die Anweisung aus Tokio und blieb mit nur 50 Mann zurück, um die Atomkatastrophe zu bekämpfen. Eine in jenen Wochen im Regierungsauftrag erstellte Geheimstudie legte fest, unter welchen Umständen allein die 38 Millionen Menschen im Großraum Tokio evakuiert werden müssten. Hätte Tepco die Anlage sich selbst überlassen, wäre es wohl soweit gekommen. Kraftwerkschef Yoshida starb zwei Jahre später an Krebs.

Nur der Mut der "Fukushima-50" dürfte Japan vor noch größerem Unheil bewahrt haben

Das Sightseeing auf dem Gelände ist gespenstisch. Da sind die 962 Wassertanks, in denen mehr als 1,1 Millionen Kubikmeter verseuchtes Kühl- und Grundwasser lagern, das dekontaminiert werden soll. Unklar ist jedoch, wie vollständig diese Entseuchung sein kann. Ein offenes Geheimnis ist hingegen, dass das Wasser irgendwann ins Meer abgelassen wird.

Wie unterschiedlich stark die Strahlung auf dem Areal ist, zeigt der Blick auf die zahlreichen Messstationen. Beim Hauptquartier beträgt sie 2,17 Mikrosievert pro Stunde, das entspricht der Strahlung auf einem Langstreckenflug. Auf 96 Prozent des AKW-Geländes konnte die Belastung inzwischen so stark reduziert werden, dass Atemmaske und Handschuhe als Schutz ausreichen. Nahe den Reaktoren 1 und 2 steigt die Strahlung hingegen auf das 40-Fache: 81,7 Mikrosievert. Im Reaktorblock 2 hatten Roboter 530 Sievert gemessen. Diese Dosis wäre sehr rasch tödlich für jeden Menschen.

Vor Reaktor 4 zeigt Yagi die 250 Millionen Euro teure Untergrund-Eismauer. Mit dickem Eis ummantelte Rohre führen 30 Meter in die Tiefe, bilden eine 1500 Meter lange Untergrundbarriere um die vier havarierten Reaktoren. Durch die 1571 Rohre strömt eine auf minus 30 Grad gekühlte Lösung und vereist die Erde: So soll verhindert werden, dass das Grundwasser sich mit dem verseuchten Kühlwasser mischt. Laut Tepco kann der Grundwassereintritt so um 85 Prozent reduziert werden.

Am Block 1 werden acht Jahre nach dem Unfall noch Trümmer weggeräumt. Im Block 2, wo die Strahlung am stärksten ist, weil es keine Explosion gab, die das Reaktorgebäude geknackt hätte, ist es nun gelungen, mit einem Roboter den Schmelztiegel des Kerns zu erreichen. Der Rückbau von Fukushima I hat also erst begonnen. "Wir entwickeln jetzt Geräte, mit denen wir die geschmolzenen Reaktorkerne bergen können", sagt Yagi. Damit wolle man im Jahre 2022 beginnen. Er räumt jedoch ein: "Es war zu optimistisch zu sagen, das Unglück sei in 30 bis 40 Jahre bewältigt. Es gibt noch keinen konkreten Zeitplan."

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SZ vom 11.03.2019/cag/cat
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