Süddeutsche Zeitung

Nuklearkatastrophe 2011:Fukushima und kein Ende

Ein Gericht erklärt, Führungskräfte des Stromunternehmens Tepco seien verantwortlich für die dreifache Kernschmelze im Atomkraftwerk Fukushima. Warum erst jetzt?

Von Thomas Hahn, Tokio

Es war eine seltsame Woche für die zornigen Opfer der Nuklearkatastrophe in Fukushima. Einerseits gab es zum ersten Mal ein Gerichtsurteil, das früheren Führungskräften des Stromunternehmens Tepco die Verantwortung dafür gab, dass es infolge des großen Ostjapan-Erdbebens mit Tsunami zu einer dreifachen Kernschmelze im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi kam. Eine mächtige Entschädigung von 13 Billionen Yen, umgerechnet 94 Milliarden Euro, müssen diese demnach zahlen. Was für eine Summe.

Andererseits passte das Urteil auf den ersten Blick nicht gut zu der Niederlage, die sie selbst im September 2019 hatten einstecken müssen, als ein Gericht in Tokio ihre eigene Klage gegen drei Ex-Tepco-Chefs abwies.

Das Nachspiel zur Nuklearkatastrophe vom März 2011 ist noch längst nicht vorbei. Schon deshalb nicht, weil Tepco mehr als elf Jahre nach dem Unglück noch nicht sehr weit ist mit dem Rückbau der radioaktiven Unfallstelle; Tepco selbst schätzt, dass dieser erst zwischen 2041 und 2051 geschafft sein dürfte. Außerdem sind immer noch Gebiete rund um das Kraftwerk unbewohnbar. Im vergangenen März waren rund 38 000 Menschen registriert, die nach dem Desaster nicht in ihre alte Heimat zurückkehren konnten.

Und es laufen weiterhin Prozesse. Erst im Juni urteilte ein Gericht in der Präfektur Fukushima, Tepco müsse 525 aktuellen und früheren Bewohnern der Stadt Tamura nahe dem Kernkraftwerk 73,5 Millionen Yen, rund 533 000 Euro, als Entschädigung für deren emotionalen Stress infolge des Nuklearunfalls zahlen. Aber wer genau die Verantwortung trägt an der Katastrophe, stellte bisher niemand fest. Der Freispruch von Tepcos Ex-Vorsitzendem Tsunehisa Katsumata sowie dessen einstigem Vizepräsidenten Ichiro Takekuro und Sakae Muto vor drei Jahren nach der Strafanzeige von Fukushima-Bewohnerinnen und -Bewohnern deutete darauf hin, dass es auch keine namentliche Schuldzuweisung geben werde.

Macht sich ein verantwortungsloser Manager nicht auch schuldig?

Aber nun gibt es dieses neue Urteil eines Zivilgerichts in Tokio nach der Klage von 48 Aktionären aus dem Jahr 2012. Demnach sind tatsächlich vier der fünf Beklagten, darunter Katsumata, Takekuro und Sakae Muto verantwortlich dafür, dass Fukushima Daiichi nicht gegen eine Riesenwelle geschützt war. Der vorsitzende Richter Yoshihide Asakura urteilte, dem Tsunami-Schutz des Unternehmens habe es "grundsätzlich an Sicherheitsbewusstsein und Verantwortungsgefühl gefehlt". 2008 hatte eine Experteneinheit von Tepco geschätzt, dass nach der Langzeit-Erdbeben-Beurteilung der Regierung von 2002 ein Tsunami von bis zu 15,7 Meter Höher das Kraftwerk treffen könnte. Aber die Unternehmensspitze reagierte darauf nicht rechtzeitig mit Schutzmaßnahmen.

Hiroyuki Kawai, Anwalt der Kläger, nannte das Urteil "historisch". Es zeige, "dass Firmen-Manager so eine große Verantwortung haben, dass man sie sogar für Schäden haftbar machen kann, wenn Unfälle passieren".

2019 hatte der vorsitzende Richter Kenichi Nagafuchi die einstigen Führungskräfte Katsumata, Takekuro und Muto mit den Worten freigesprochen: "Es wäre unmöglich, ein Atomkraftwerk zu betreiben, wenn die Betreiber jede Möglichkeit in Bezug auf einen Tsunami vorhersehen und notwendige Gegenmaßnahmen ergreifen müssten." Warum dieser Unterschied zwischen 2019 und 2022? Wohl weil der Prozess 2019 ein Strafprozess war. Der Richter wollte in Management-Versagen keine Straftat sehen. Im Zivilprozess der Aktionäre ging es hingegen nicht um Schuld, sondern um Verantwortungslosigkeit. Aber macht sich ein verantwortungsloser Manager nicht auch schuldig? Die Klägerinnen und Kläger waren 2019 jedenfalls unzufrieden mit dem Urteil. Der neue Richterspruch dürfte auch für sie ein Trost sein.

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