Thüringens Ex-Verfassungsschutz-Präsident Roewer:"Er war eher ein Künstler"

Das Chaos regiert - und niemand schreitet ein. Die aberwitzigen Zitate im Thüringer NSU-Untersuchungsausschuss legen den Schluss nahe, dass nicht nur der Verfassungsschutz mit seinem kuriosen Chef Roewer auf ganzer Linie versagte.

Johannes Kuhn

An seine Ernennung zu Thüringens höchstem Verfassungsschützer konnte sich Helmut Roewer nicht erinnern, als er im NSU-Untersuchungsausschuss des Landtages danach gefragt wurde. ("Es war dunkel, außerdem war ich betrunken.") Überhaupt tauchen in dem Gremium derzeit häufig Erinnerungslücken auf. Statt zu klären, wie die rechtsextreme Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" zehn Jahre unentdeckt bleiben konnte, wirft der Erfurter Ausschuss neue Fragen auf.

NSU-Untersuchungsausschuss befragt Ex-Verfassungsschutzchef Roewer

Helmut Roewer war von 1994 bis 2000 Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz in Thüringen. Wie konnte er sich so lange im Amt halten?

(Foto: dapd)

Wie konnte Roewer von 1994 bis 2000 Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz bleiben, obwohl die chaotische Arbeit seiner Behörde offenkundig war? Wer hat die Geheimdienstler kontrolliert? Warum wurden sie von niemandem gestoppt?

Nicht einmal die Frage, wer für Roewes Ernennung zuständig war, ist eindeutig geklärt. Weder der damalige CDU-Innenminister Franz Schuster ("Ich konnte über seine Befähigung nichts sagen, weil ich ihn nicht kannte"), noch dessen Staatssekretär Michael Lippert ("Ich kann mich nicht erinnern") konnten erklären, wie es Roewer aus dem Bonner Innenministerium an die Spitze der Behörde verschlug. Auch sind keine Unterlagen zu dem Vorgang auffindbar.

"Sogar in Kaffeerunden" geplaudert

In Roewers Amtszeit, so der Eindruck, verschärfte sich das Problem des organisierten Rechtsradikalismus in Thüringen. Noch im ersten Jahr heuerte seine Behörde den Neonazi Tino Brandt als V-Mann an. Der kassierte damals nicht nur 800 Mark für jeden seiner zahlreichen Tipps, sondern agierte 1997 auch als Cheforganisator der Sammelbewegung Thüringer Heimatschutz, zu dessen Stammtischen auch das mutmaßliche Terror-Trio erschien.

1998 tauchte das Trio ab, nachdem die Polizei bei einer Razzia in einer Garage von Beate Zschäpe eine Bombenwerkstatt gefunden hatte - ob Polizei oder Verfassungsschutz die Schuld an dem verpatzten Zugriff tragen, ist strittig.

Auch intern waren die Zustände im Verfassungsschutz chaotisch: Ranghohe Mitarbeiter hatten sich von Roewer abgewendet, im Untersuchungsausschuss erzählten sie bereitwillig, wie dieser arrogant und rücksichtslos den Rat von Mitarbeitern ignorierte, "sogar in Kaffeerunden" über Informanten plauderte, barfuß durchs Amt wandelte oder im sechsten Stock der Behörde ein "Observationsfahrrad" testete.

"Er war eher ein Künstler"

Merkten das Thüringer Innenministerium und die parlamentarischen Kontrollgremien nicht, was damals passierte? Ein echtes Kontrollsystem, das legen die Aussagen im NSU-Ausschuss nahe, hat es nie gegeben. "Natürlich war bekannt, dass Roewer sein Amt etwas anders führte, eher Künstler war", sagt einer, der damals in einem der entsprechenden Landtagsausschüsse saß. Doch die Informationspolitik des Innenministeriums sei dürftig gewesen, zudem habe das Parlament nach den damaligen Gesetzen kaum Zugang zu wichtigen Informationen wie zum Beispiel Abrechnungen gehabt.

Hinzu kommt: Zum damaligen Zeitpunkt saßen mit CDU, SPD und PDS nur drei Parteien im Landtag, von denen zwei auch noch in einer großen Koalition regierten - kritische Parlamentsarbeit ist bei einer solchen Machtverteilung eher selten.

Auftritt mit Pickelhaube

Dirk Adams, der für die Grünen im NSU-Untersuchungsausschuss sitzt, nennt noch einen anderen Grund: "Es hat praktisch keine Kontrolle stattgefunden. Roewer hat sie ausgeschaltet, weil er sich mit dem damaligen Innenminister sehr gut verstanden hat." Der Vorwurf zielt auf den damaligen SPD-Innenminister Richard Dewes, der in der großen Koalition von 1994-1999 das Amt innehatte.

Dewes, der derzeit im Urlaub weilt und auf eine Anfrage von Süddeutsche.de noch nicht reagiert hat, hatte sich im NSU-Ausschuss schweigsam gezeigt. "Ich habe ihn nicht vorgeschlagen und nicht ausgewählt", hatte er zur Personalie Roewer erklärt, aber gleichzeitig betont, an ihm festgehalten zu haben, weil er ihn als für das Amt geeignet erachtete.

Fragen zur V-Mann-Anwerbung oder der Tatsache, dass der Verfassungsschutzchef Kunsthistoriker und Altphilologen ohne Berufserfahrung direkt von der Uni eingestellt und diesen zum Teil gleich Leitungsfunktionen zugewiesen hatte, beantwortete er unter Berufung auf Erinnerungslücken nicht.

Die Blindheit von Vorgesetzten und Kontrollorganen wurde spätestens im Jahr 2000 offensichtlich. Roewer musste seinen Hut nehmen, weil es Ungereimtheiten bei den Honorarabrechnungen gegeben hatte. Unter anderem hatte er unter einem Decknamen eine Tarnfirma namens Heron-Verlag gegründet. 2003 klagte die Staatsanwaltschaft Erfurt Roewer wegen Betrugs und Untreue in 60 Fällen an. Er soll Scheinverträge im Gesamtwert von 250.000 Euro abgeschlossen haben. Der Prozess wurde 2010 nach 50 Verhandlungstagen gegen Zahlung einer Geldauflage in Höhe von 3000 Euro eingestellt.

Mit Pickelhaube in Weimar

Unter den Heron-Produktionen findet sich auch eine Dokumentation mit Namen "Jugendlicher Extremismus mitten in Deutschland - Szenen aus Thüringen" aus dem Jahr 2000. Dort tritt auch Roewer selbst vor die Kamera und kommt zu dem Schluss, dass es sich bei rechten Straftaten "ganz, ganz überwiegend" um das Zeigen verfassungsfeindlicher Symbole handele. Dies sei in Deutschland strafbar, "in anderen Ländern ist das ganz anders".

Es ist nicht der einzige Auftritt, der deutliche Zweifel weckt, ob Roewer der richtige Mann für Ermittlungen gegen die rechte Szene war. Bei einem Fest in Weimar im Jahr 2000 trat der damalige Verfassungsschutzpräsident als kaiserlicher Soldat samt Pickelhaube auf.

Pünktlich zur Frankfurter Buchmesse im Herbst will Roewer ein Tagebuch über seine Amtszeit veröffentlichen, in dem er über "drastische Verhältnisse" berichten will. Nach Informationen des MDR erscheint es im umstrittenen österreichischen Ares-Verlag, der von Kritikern als Plattform für rechtsradikale und antisemitische Autoren bezeichnet wird. Bereits 2010 hatte Roewer, der auf eine Gesprächsanfrage von Süddeutsche.de für diesen Artikel bislang nicht geanwortet hat, ein Buch dort publiziert: Die Rote Kappelle und andere Geheimdienstmythen - Spionage zwischen Deutschland und Russland im Zweiten Weltkrieg.

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