Nachruf auf Carlos WidmannHerzensmut

Lesezeit: 3 Min.

Die  Süddeutsche Zeitung  hat ihm viel zu verdanken: Carlos Widmann.
Die Süddeutsche Zeitung hat ihm viel zu verdanken: Carlos Widmann. (Foto: Peter-Andreas Hassiepen)

Im Alter von 87 Jahren ist Carlos Widmann gestorben. Seine literarischen Reportagen aus aller Welt haben 30 Jahre lang die SZ geprägt.

Von Kurt Kister

Sein letztes Wort, so heißt es aus der Familie, sei coraggio gewesen, italienisch für „Mut“. Mut brauchte der Gefühlsitaliener Carlos Widmann für seinen nach langer Vorbereitung getroffenen Entschluss, wegen fortschreitender Demenz mit ärztlicher Begleitung aus dem Leben zu scheiden. Er starb in Amsterdam, seinem letzten Wohnsitz, im Kreise seiner Familie. Vor ein paar Wochen war er 87 geworden. Es gibt keinen „schönen“ Tod. Möglicherweise aber ist Carlos Widmann so gestorben, wie er gelebt hat: frei, bewusst und hoffentlich mit einem ironischen Lächeln.

Coraggio war so etwas wie ein Lebensmotto für ihn. Er war ein Mann des fröhlichen Mutes, manchmal ein wenig angenehm unvernünftig, meistens sehr herzlich, immer zugewandt und ein großer Ironiker. Carlos, wie ihn alle nannten, die ihn kannten, war belesen, freundlich, schlagfertig und ein großer Liebhaber der klassischen Musik. Er war ein Gentleman, allerdings nicht des englischen Zuschnitts, sondern eher ein perfetto gentiluomo, wie man sie in Rom, Mailand oder Florenz fand. Wenn so jemand stirbt, ist man geneigt, zu sagen: Menschen, oder jedenfalls Journalisten, wie ihn gibt es nicht mehr. Das ist meistens falsch. Bei Carlos Widmann stimmt es.

Er setzte Maßstäbe für das oft literarische, ironische Schreiben

Widmann wurde im April 1938 in Buenos Aires geboren. Er hat sich wegen seiner familiären Wurzeln hin und wieder selbst als „Auslandsbayer“ bezeichnet. Bis 1956 war er auf einem argentinischen Militärgymnasium, das er nicht nur mit dem Abiturzeugnis, sondern auch mit dem Dienstgrad eines Reserveleutnants verließ. 1958 kam er nach München zum Jurastudium, merkte dann aber relativ schnell, dass für ihn der Journalismus der Juristerei vorzuziehen war. Es gibt zwei Arten von juristisch vorgebildeten Journalisten: Die einen bleiben als Journalisten Juristen und neigen dazu, auch in ihren Kommentaren entschieden Recht zu sprechen. Die anderen sind vor der Juristerei eher mit Respekt geflohen; manche von ihnen sind großartig schreibende Bohemiens. Die SZ hatte gleich zwei dieses Typs: Herbert Riehl-Heyse und Carlos Widmann.

Nach ein paar Anläufen beim Bayerischen Rundfunk und der Abendzeitung führte Widmanns Weg über die Deutsche Journalistenschule zur Süddeutschen Zeitung. Dort wurde er 1961 Redakteur in der Nachrichtenredaktion. Mit 27 Jahren schließlich kehrte er wieder in seine Geburtsstadt Buenos Aires zurück – als SZ-Korrespondent für Lateinamerika. Damit begann seine fast 30 Jahre währende Korrespondentenzeit für die SZ. In dieser Zeit setzte Widmann Maßstäbe für das oft literarische, ironische Schreiben in der Zeitung. Seine Reportagen erinnerten weniger an rasendes Reportertum als vielmehr an Evelyn Waugh oder manchmal an Cees Nooteboom. Die wenigsten Journalisten sind Literaten, und viele Texte, die man schreibt, sind Gebrauchstexte. Aber Widmann zeigte den damals jungen Kolleginnen und Kollegen, wie man schreiben kann, wenn man es kann. Für viele Leserinnen und Leser war Carlos – gemeinsam mit Autoren wie Martin Süskind oder Gerd Kröncke – ein überaus guter Grund, die SZ zu lesen.

Argentinien, Indien, der Vietnamkrieg, Italien und dann Amerika

1972 wechselte Widmann von Argentinien nach New Delhi. Er schrieb über Südostasien und die letzten Jahre des Vietnamkriegs. Ein Kriegsreporter war Widmann nie, auch wenn er immer wieder mal über Kriege berichtete. Olivfarbene Korrespondentenwesten mochte er nicht, er trug lieber Blazer, gerne auch zweireihige. 1978 ging er dann für die SZ nach Italien, in gewisser Weise das Land seiner Bestimmung. Möglicherweise ist auch ein Teil des Wesens der SZ irgendwie italienisch. Carlos Widmann verkörperte dieses Wesen nahezu. Seine Reportagen über italienisches Sein, lebende und tote Päpste oder die Welt aus dem Blickpunkt eines Cafés auf der Piazza Navona waren oft Alltagsliteratur. Seine letzte Station für die SZ war zwischen 1985 und 1991 Washington unter den Präsidenten Ronald Reagan und George Bush.

1991 erlag er den Lockungen des Spiegel, der damals (gelegentlich auch heute noch) SZ-Reporterinnen und Redakteure „einkaufte“.  In vielen Fällen verdienen die dann mehr Geld, genießen aber nicht mehr jene SZ-typische ungeordnete Freiheit, deretwegen manche so schreiben konnten, dass andere auf sie aufmerksam wurden. Wenn man beim Spiegel unglücklich ist, ist man besonders unglücklich. Bei Widmann war das so. Nach einigen Jahren beim Spiegel überwarf der sich mit ihm oder umgekehrt. Von Washington war die Familie Widmann noch zu Spiegel-Zeiten nach Paris umgezogen. Lange Jahre lebten die Widmanns dann in Paris und wechselweise in Umbrien. Erst vor relativ kurzer Zeit erfolgte der Umzug nach Amsterdam, um in der Nähe von Kindern und Enkeln zu sein.

Auch wenn Widmanns Zeit bei der SZ vor mehr als 30 Jahren endete (abgesehen von gelegentlicher freier Mitarbeit als Senior), gehört er zu jenen, die Wesen und Tradition dieser Zeitung geprägt haben. Er würde bei so einem Satz lächeln und abwinken, weil er zwar sehr selbstbewusst, aber dem Pathos abhold war. Die Zeitung hat ihm sehr viel zu verdanken, auch seinem coraggio, dem Mut des Herzens.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: