Frühere Berliner Problemschule:"Rütli ist cool!"

Vor Jahresfrist galt die Berliner Rütli-Schule als hoffungsloser Fall von Gewalt und Apathie. Heute gilt: Wer sein Kind in Neukölln an einer Hauptschule anmelden muss, der sollte dies an der Rütli-Schule tun.

Thorsten Denkler, Berlin

Dass in dieser Schule etwas Neues begonnen hat, wurde vielen klar, als eines Tages das neue Faxgerät im Vorzimmer des Direktors stand. Ein hochmodernes Gerät in grau. Das davor war orange/schwarz, machte einen Höllenlärm und hätte auch eine Rolle in der Comic-Serie "Die Feuersteins" spielen können, verrät die Sekretärin. Das neue Gerät fällt auf zwischen den Büromöbeln, die ebenfalls aus Urzeiten stammen könnten. Aber an dieser Schule ist mehr neu als nur ein Faxgerät.

Es ist "Tag der offenen Tür" an der Rütli-Schule in Berlin-Neukölln. Der erste "Tag der offenen Tür" nach "den Ereignissen", wie der neue Schulleiter Aleksander Dzembritzki die Wochen nennt, die vor genau einem Jahr begonnen hatten.

Damals gelangte ein Brandbrief, ein Hilferuf der kommissarischen Schulleitung an die Öffentlichkeit. Seit Jahren keine Schulleitung, zu wenig Lehrer, zuviel Angst, zuviel Gewalt, die Lage nicht mehr unter Kotrolle. Der Brief löste ein Erdbeben aus. Die Schule wurde von Kamerateams und Reportern regelrecht belagert. Schüler sollen dafür bezahlt worden sein, möglichst böse in die Kamera zu gucken oder Steine in Schulfenster zu schmeißen. Es waren die Wochen, die der Schule einen Neubeginn ermöglichten.

Wie damals stehen heute Kamerawagen vor den Schultoren, suchen Fotografen nach dem besten Bild und Radioreporter nach O-Tönen. Diesmal ist die Schule vorbereitet. Mädchen in roten T-Shirts verteilen Schulflyer und Pressemitteilungen. Der Schulleiter gibt um Punkt zehn Uhr eine Pressekonferenz auf dem Schulhof. Jackett, Hemd und Krawatte in dezenten Grün-Tönen aufeinander abgestimmt.

Lob für den Vorgänger

Dzembritzki lobt die Schule, holt mit den Händen weit aus, um die vielen Projekte, Arbeitsgruppen und Initiativen vorzustellen, 23 an der Zahl. Von der Rütli-Band über das Video-Projekt "Rütli-Schüler in Betrieben", bis zu Action-Painting und Boxen in der Turnhalle. Immer wieder spricht er von Chancen, von Zukunft, von Ideen.

Sein Vorgänger Helmut Hochschild, der Mann, der mit dem Motorrad zur Schule kommt, steht ein paar Meter abseits. Er war während der "Ereignisse" der Feuerwehrmann, brachte Ruhe und Linie in die Schule. Und Freundlichkeit. Schüler kommen auf ihn zu, geben ihm die Hand. "Toll, dass Du da bist", sagt Hochschild. Oder: "Schön Dich zu sehen."

Das hat sich auf die Schüler übertragen. Sebastian, 16 Jahre alt, weißes Shirt, silberne Panzerkette. Mit sechs anderen Jungs gleichen Kalibers sitzt er hinter Schultischen im Treppenhaus und verkauft Kuchen. "Guten Appetit wünsche ich Ihnen", sagt er. "Darf´s noch etwas Sahne sein? Eine Gabel dazu? - Bitte sehr." Sebastian lächelt dabei.

Zum neuen Schulhalbjahr sind er und seine Familie aus Kassel hergezogen. Rütli kannte er nur aus dem Fernsehen. "Da wollte ich auf keinen Fall hin." Also doch Rütli. Auf anderen Schulen war kein Platz. Heute ist er froh, dass es so gekommen ist. "Die Lehrer sind super, die Schüler sind super, gibt keinen Stress hier. Ich schwänze hier nicht mehr wie früher, in Kassel."

So reden alle Schüler hier. Es ist ihr Tag. Sie wollen ihn nutzen, den ramponierten Ruf ihrer Schule aufmöbeln, haben keine Lust mehr, angemacht zu werden, weil sie auf der Rütli-Schule sind. "Rütli ist cool!", sagt Asya, 17, die T-Shirts der Schulfirma Rütli-Wear verkauft.

Sie scheinen Recht zu haben. Wer sein Kind in Neukölln an einer Hauptschule anmelden muss, der sollte dies an der Rütli-Schule tun. Seit "den Ereignissen" wurden vier neue Lehrer und drei Sozialpädagogen eingestellt, jetzt sind 25 Kollegen für 200 Schüler zuständig.

Geld und mehr Lehrer allein sind es aber nicht. "Es hängt auch mit der Persönlichkeit des Schulleiters zusammen", sagt Hochschild. Da hat es die Schule mit Aleksander Dzembritzki offenbar gut getroffen.

Dzembritzki spricht mit jedem, sucht Kompromisse, entscheidet nicht einfach von oben, sagt die Sekretärin. Alles ist freundlicher geworden. "Früher habe ich am Tag danach erfahren, dass es eine Weihnachtsfeier gab. Letztes Jahr bin ich zum ersten Mal eingeladen worden", sagt sie. "Und der Hausmeister auch." An einer der tiefbraunen Schranktüren in ihrem Vorzimmer hängt ein vergilbter Zettel. Ein Gedicht. Die ersten beiden Zeilen: "Ein Lächeln anderen zugewandt/ behält und hat große Macht". Wie wahr.

Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: