In diesen Wochen beugen sich die Richterinnen und Richter des Bundesverfassungsgerichts über ein Gesetz, dem die große Mehrheit der Fachleute längst ein hartes und verdientes Schicksal vorhergesagt haben - die Verfassungswidrigkeit. Das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen, beschlossen im Juli 2017 unter dem Eindruck der Flüchtlingskrise, stammt den Kritikern zufolge aus der Kategorie gut gemeint, aber schlecht gemacht. Weil danach jede Ehe mit einer Person unter 16 Jahren automatisch unwirksam sei (zwischen 16 und 18 Jahren ist sie lediglich "aufhebbar"), gebe es keinerlei Spielraum, solche Verbindungen dort aufrechtzuerhalten, wo dies zum Schutz der Beteiligten eben doch die bessere Lösung wäre. Im nächsten Frühjahr dürfte mit einer Entscheidung aus Karlsruhe zu rechnen sein.
Auf Anforderung des Gerichts hat nun das Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht eine ausführliche Studie zu den Regeln und Gesetzen anderer Staaten vorgelegt. Im internationalen Vergleich wirkt die deutsche Rechtslage wie ein sehr restriktiver Sonderweg, selbst dann, wenn man sie an Ländern wie Schweiz, Niederlande oder Schweden misst, wo die Anerkennung von im Ausland geschlossenen Kinderehen seit einigen Jahren ebenfalls stark einschränkt worden ist. Den entscheidenden Unterschied machen hier nicht etwa die Altersgrenzen. Die liegen in den drei genannten Ländern bei 18 Jahren, darunter wird einer Auslandsehe grundsätzlich die Anerkennung versagt.
Allerdings lassen die europäischen Nachbarn Hintertüren offen. Denn sobald beide Partner das 18. Lebensjahr erreicht haben, wird nach schwedischem und niederländischem Recht der Fehler "geheilt" - die Ehe ist doch wieder wirksam. Oder sie kann, Altersgrenze hin oder her, im "überwiegenden Interesse" der Eheleute gerichtlich anerkannt werden, so ist es in der Schweiz. Die meisten anderen Staaten sind ohnehin großzügiger bei der Anerkennung ausländischer Ehen und ziehen die Grenze erst beim "Ordre public", also beim Verstoß gegen fundamentale Rechtsgrundsätze.
So war es früher auch in Deutschland, das neue Gesetz wirkt dagegen wie ein Fallbeil. Die Studie illustriert das an einem Fall, den das Amtsgericht Syke noch nach den früheren Vorschriften entschieden hatte. Ein Syrer berief sich darauf, er sei bei der Heirat erst 15 Jahre alt gewesen, weshalb die Ehe unwirksam sei - nach 40 Jahren des Zusammenlebens und neun gemeinsamen Kindern. Damals ließ man die Ehe bestehen. Nach den neuen Vorschriften hätte man sie schlicht für nicht existent erklären müssen.
Für junge Frauen kann das Gesetz fatale Folgen haben
Ist so eine Ehe aber "unwirksam", wie es im Gesetz heißt, dann kann das existenzielle Folgen für die Beteiligten haben - zumal für die jungen Frauen, die in solchen Verbindungen oft der wirtschaftlich abhängige Teil sind. Ob sie Unterhalt oder sonstige Zahlungen beanspruchen könnten, ist dem Gutachten zufolge höchst fraglich. Sollte es bereits Kinder geben, könnte auch die Vaterschaft des Mannes infrage stehen - und damit seine elterliche Verantwortung. Flüchtlingspaare können auseinandergerissen werden, wenn der minderjährige Partner plötzlich unter behördliche Vormundschaft gestellt wird. "Ob dies immer dem Schutz des Minderjährigen entspricht, wird bezweifelt", heißt es in der Studie.
Eingehend befasst sich das von Ralf Michaels und Nadjma Yassari verfasste Papier mit den Beweggründen zur Eingehung einer - so nennen sie es - "Frühehe". Für die jung Verheirateten seien solche Verbindungen häufig "Fluch und Segen zugleich". Einerseits sei die Frühehe wichtiger Bestandteil der sozialen Identität von Frauen und zugleich Befreiung aus den Fesseln einer Sexualethik, die Sexualität außerhalb der Ehe verbietet. Andererseits ist es eben meist die Ehefrau, die minderjährig ist. "Durch ihre Verankerung in patriarchalen Strukturen perpetuiert die Frühehe somit auch vorhandene, rigide Vorstellungen der Geschlechterrollen."
Dass es sich hier durchgängig oder auch nur überwiegend um echte Zwangsehen handelt, konnten die Autoren indes nicht feststellen. Wohl aber würden in einigen Ländern Ehen "arrangiert", was von den jungen Menschen oft aus Respekt vor den Eltern und den Traditionen hingenommen werde. Eine Untersuchung habe gezeigt, dass in Äthiopien 89 Prozent aller Ehen mit unter 15-jährigen Mädchen von den Eltern arrangiert seien. Zu einem ähnlichen Ergebnis sei eine Befragung von Frauen im osttürkischen Diyarbakir gekommen. Meist würden die Jugendlichen immerhin vor der Verheiratung gefragt - aber viele junge Frauen fühlten sich ohnmächtig. "Die Grenze zwischen der Akzeptanz herrschender Vorstellungen und psychischer Nötigung ist diffus und schwierig zu ziehen", heißt es in der Stellungnahme.
Auf den Einzelfall kommt es an
Aber nicht nur Konventionen begünstigen die Frühehe, es gibt auch ökonomische Gründe. Gerade in Ländern ohne staatliche Sozialfürsorge heiraten junge Leute, um der Armut zu entkommen und die eigene Familie zu entlasten. Bei einer Interviewreihe in Bagdad hat mehr als die Hälfte der befragten Irakerinnen angegeben, aus ökonomischer Not früh geheiratet zu haben. Und in Tansania ist es für Frauen schwer, einen Job zu finden - da ist die Frühehe oft "eine akzeptable Exitoption aus Armut und Perspektivlosigkeit", heißt es in dem Papier.
Eine entscheidende Frage für das Verfassungsgericht ist freilich, ob das verschärfte deutsche Kinderehengesetz den zu früh Verheirateten wirklich hilft - oder ob es eher Schaden anrichtet.
Die Autoren sehen das Regelwerk jedenfalls kritisch. Es sei nicht erkennbar, dass die pauschale Nichtanerkennung ausländischer Frühehen besser zur Bekämpfung problematischer Kinderehen geeignet sei als ein Gesetz, das Raum für die Beurteilung des Einzelfalls lasse. Nur dann lasse sich nämlich einschätzen, ob die Annullierung der Ehe wirklich dem Schutz der jugendlichen Partner diene.