Süddeutsche Zeitung

Frühe Bundesrepublik:Rübergemacht nach Ost-Berlin

Otto John, Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz, löste 1954 einen Skandal aus. Benjamin Carter Hett und Michael Wala haben nun eine aufschlussreiche Biografie vorgelegt.

Von Ralf Husemann

Er war eigentlich immer der Mann am falschen Ort. Das lag auch an ihm selbst, aber vor allem an seinen Gegnern. Und die gab es reichlich. Otto John, Mitverschwörer der Hitler-Attentäter vom 20. Juli und nach dem Krieg der erste Präsident des Bundesamtes für Verfassungsschutz (BfV), war eine schillernde Figur, der seine (wenigen) Freunde rätseln und seine erbitternden Feinde schäumen ließ. Sein jähes Auftauchen in Ost-Berlin 1954, ausgerechnet an einem 20. Juli, seine folgenden zahlreichen öffentlichen Auftritte in der DDR, seine ebenso überraschende Rückkehr 17 Monate später, seine Verurteilung zu vier Jahren Zuchthaus und sein lebenslanges vergebliches Bemühen um Rehabilitierung - dies alles beschäftigt Historiker, Journalisten, Politiker und alle an der Zeitgeschichte Interessierten bis heute - mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen, wie man sich denken kann. Hinzu kommt, dass viele Akten noch immer verschlossen sind, bei der CIA wie beim russischen Auslandsgeheimdienst SWR. Und auch der Bundesnachrichtendienst hat seine Archive nur "einen Spaltbreit geöffnet", wie die Autoren dieser ersten umfassenden John-Biografie sogar noch voller Anerkennung vermerken.

Aber auch wenn vermutlich nie alle Rätsel dieses die junge Bundesrepublik erschütternden Skandals aufgeklärt werden können, manches ist doch dank der aufwendigen Recherchen von Benjamin Carter Hett und Michael Wala (allein 768 Anmerkungen in diesem verdienstvollen Band) jetzt plausibler geworden. Mit hoher Wahrscheinlichkeit ist John, obwohl er dies immer wieder beteuerte, nicht von dem Arzt und KGB-Agenten Dr. Wolfgang Wohlgemuth gekidnappt und in den Osten verschleppt worden. Der gelernte amerikanische Rechtsanwalt und Deutschland-Historiker Hett und der deutsche Geheimdienstexperte und Nordamerika-Historiker Wala haben sich offensichtlich gut ergänzt und eine, auch psychologisch, überzeugende Version dieses Politkrimis vorgelegt. Danach war John zwar freiwillig in den Osten gegangen, wollte aber wohl möglichst bald wieder zurückkehren. Erst als ihm bewusst geworden sei, dass seine Gespräche mit diversen KGB-Agenten ihm als Landesverrat ausgelegt werden könnten und er sogar drei Monate in Moskau verbringen musste, habe er die Verschleppungsgeschichte erfunden.

Die Autoren zeichnen das Porträt eines Mannes, der sich maßlos überschätzte

Dennoch ist John für das Autoren-Duo kein "Vaterlandsverräter", nicht einmal ein Sympathisant der Sowjetunion oder der DDR gewesen. Eher ein konservativer deutscher Patriot, der sich aber selbst maßlos überschätzte und glaubte, mit seinem spektakulären aberwitzigen Schritt etwas für die Wiedervereinigung und gegen die einseitige Westbindung der Bundesrepublik erreichen zu können. Hinzu kam, dass John, dessen Bruder und viele seiner Freunde im Dritten Reich ermordet wurden, wie ein Don Quichotte jahrelang einen erbitterten, aber aussichtslosen Kampf gegen die in Regierung, Parlament, Universitäten und selbst in seinem eigenen Amt wieder mächtigen und dreisten Nazis führte. Die wiederum taten alles, um John als unfähige und zugleich verdächtige Person verächtlich zu machen und ihm zu unterstellen, nach seiner Flucht aus Deutschland 1944 Agent des britischen Geheimdienstes in Spanien, Portugal und England geworden zu sein. Dies kolportierte auch immer wieder Johns erbitterter Geheimdienstkonkurrent Reinhard Gehlen (später Leiter des BND), der selbst gerne BfV-Chef geworden wäre.

Empört waren viele John-Widersacher auch über die Tatsache, dass er bei den Nürnberger Prozessen und vor allem bei dem Verfahren gegen den in Offizierskreisen hymnisch verehrten Generalfeldmarschall Erich von Manstein, dem zu Recht Kriegsverbrechen angelastet wurden, die Vertreter der Anklage beriet. Selbst das Faktum, dass John die Verwicklung in das Hitler-Attentat als einer der wenigen überlebt hatte, wurde ihm gelegentlich zum Vorwurf gemacht. Bittere Analyse der Autoren: Dies alles habe den, ohnehin psychisch nicht sehr stabilen, obersten deutschen Verfassungsschützer mürbe gemacht. Er habe vor seiner Autofahrt mit Wohlgemuth nach Ost-Berlin "mit dem Rücken zur Wand gestanden" und "innerlich Abschied genommen". Zu seiner Frau sagte er, es mache ihm nichts aus, wenn man ihn entließe. Noch bei den Feierlichkeiten zum Gedenken an den Umsturzversuch vom 20. Juli (die ersten dieser Art nach dem Krieg!) erkannte John unter den Personenschützern "Gestapolümmel", die mit "hämischer Gebärde" die Feier verfolgt hätten. Das alles bestärkte ihn in seinem Wunsch, mit einer dramatischen Aktion die Weltgeschichte ein wenig zu verändern. Doch John zahlte, so die Bilanz, "für seine Eitelkeit, Naivität und seine Unbedarftheit einen grausam hohen Preis".

"Welche Vorbildung, welche Kenntnisse und welche Verdienste muss man eigentlich haben, um in der Bundesrepublik Präsident des Amtes für Verfassungsschutz zu werden?", höhnte seinerzeit der nationalkonservative Richard Tüngel, Mitbegründer der Zeit, über Otto John. Anlass der Empörung war eine völlig überzogene Verhaftungswelle vermeintlicher Ostspione, nachdem ein in die Bundesrepublik geflüchteter Stasi-Mann und CIA-Doppelagent ausgepackt hatte. Den angeblichen Agenten konnte dann kaum etwas nachgewiesen werden. John war an dieser Aktion "Vulkan" aber nur am Rande beteiligt, was aber auch schon etwas über seine tatsächlich eher lockere und unkonventionelle Amtsführung aussagte.

Originell ist die These der Autoren, dass Otto John auch als Charakter nicht in die autoritäre und von angeblichem männlichen Heldentum geprägte Nachkriegszeit passte. So wurde der eher weich wirkende John in seinem Prozess vor dem Bundesgerichtshof von Oberbundesanwalt Max Güde als "Schwächling" bezeichnet, und selbst Fabian von Schlabrendorff, auch einer der wenigen Überlebenden des 20. Juli, konnte sich nicht verkneifen zu sagen, dass die Beziehungen Johns, der eine neun Jahre ältere Musikwissenschaftlerin geheiratet hatte, zu Frauen "immer etwas lächerlich gewesen seien".

Dieses Buch zeichnet nicht nur ein relativ klares Porträt von Otto John, sondern ist auch eine präzise Abrechnung mit der heute nicht selten als "gute alte Zeit" verklärten Epoche.

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SZ vom 29.07.2019
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