Frühe Bundesrepublik:Führen auf Harzburger Art

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Reinhard Höhn, Chefideologe des NS-Staats, bildete bald nach dem Weltkrieg die Managerelite aus. Johann Chapoutot macht es sich mit seiner Kontinuitätsthese dennoch zu einfach.

Rezension von Stefan Kühl

Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es nur wenige Jahre, bis in der Bundesrepublik Deutschland führende Funktionäre des NS-Staates wieder an Schlüsselstellen in Ministerien, Verwaltungen, Armeen, Polizeien, Universitäten und Unternehmen saßen. Erst mit dem altersbedingten Ausscheiden dieser ehemaligen NS-Funktionäre in den 1960er- und 1970er-Jahren wurde es möglich, diese personale Kontinuität breit zu thematisieren.

Eine junge Generation von Wissenschaftlern, Juristen, Medizinern und Journalisten konnte sich mit der NS-Vergangenheit ihrer Vorgänger auseinandersetzen, ohne negative Auswirkungen auf die eigene Karriere befürchten zu müssen. Der soziale Tod - also der mit der Pensionierung einhergehende Verlust von Einfluss und Kontakten - und erst recht der biologische Tod der ehemaligen NS-Funktionäre machte es möglich, erstmals offensiv Kontinuitätslinien zu thematisieren.

In dieser durch die Studentenbewegung angeheizten Phase der Aufdeckung wurde davon ausgegangen, dass die personelle Kontinuität auch zu einer inhaltlichen Kontinuität geführt hätte. Die NS-Funktionäre hätten, so die Einschätzung, ihre Verbundenheit mit der nationalsozialistischen Ideologie nur kaschiert und würden ihre im NS-Staat vertretenen Programme nun in einer lediglich verbal abgeschwächten Variante fortsetzen. Die Gegenwärtigkeit des Nationalsozialismus sei, so die Behauptung, in der Republik nicht nur personal, sondern auch inhaltlich unübersehbar.

Der Geist der Nazis wirkte auch in der BRD

Der französische Historiker Johann Chapoutot hat jetzt eine Arbeit vorgelegt, die in dieser Tradition der Kontinuitätserzählung steht. In seinem als Essay verfassten Büchlein versucht er nachzuweisen, dass die "nationalsozialistischen Vorstellungen von Management über das Jahr 1945 hinaus fortbestanden und in den Jahren des Wirtschaftswunders fröhliche Urstände feierten" und auch jetzt noch wirken würden.

Mit Blick auf neue Managementkonzepte sei es, so Chapoutot, erstaunlich, wie "modern manche Aspekte des Nationalsozialismus" seien. Zwar hätte es damals in den Unternehmen noch keine "Tischkicker, Yoga-Kurse oder Chief Happiness Officers" gegeben, aber das "Prinzip und der Geist" seien in der Wirtschaft des NS-Staates die gleichen gewesen - "Wohlbefinden, wenn nicht gar Freude als Faktoren der Leistungsfähigkeit und Produktivitätssteigerung".

"Chefseminar" mit Reinhard Höhn am 16. Januar 1965 im Hotel Jagdhof in Bad Harzburg, Sitz der Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft. Das "Harzburg-Kolleg" kostet jeden Teilnehmer 5000 Mark. So steht es im Archiv der Bad-Harzburg-Stiftung. (Foto: Bad-Harzburg-Stiftung)

Chapoutot schließt mit dieser These an vorige Arbeiten an, mit denen er gezeigt hat, wie stark das nationalsozialistische Denken in europäischen Traditionen verankert gewesen ist. Der NS-Staat, so die Quintessenz seiner Überlegungen, sei kein Unfall der Geschichte gewesen, sondern vielmehr die konsequente Umsetzung eines tief in der europäischen Kultur verankerten Denkens. Dementsprechend ließen sich auf so unterschiedlichen Feldern wie der Familienpolitik, der Militärführung und dem Unternehmensmanagement die Wurzeln der NS-Politik in der europäischen Kultur verorten und ihre Wirkungen bis in die heutige Zeit nachweisen.

Höhn als "ein Josef Mengele des Rechts"

Als Anschauungsfall für seine These einer Kontinuität im Management dient Chapoutot das Harzburger Modell, das in den 1960er-Jahren von Reinhard Höhn, einem ehemaligen SS-Sturmführer und engen Vertrauten Heinrich Himmlers, entwickelt wurde. Die Faszination für die Person Reinhard Höhn ist verständlich, weil man an seinem Beispiel Brüche und Kontinuitäten von der Weimarer Republik über den NS-Staat bis zur Bundesrepublik Deutschland nachvollziehen kann.

Nachdem Reinhard Höhn in der Weimarer Republik als Student eine steile Karriere im nationalliberalen und antisemitischen Jungdeutschen Orden gemacht hatte, wurde er einer der führenden Staatsrechtler im NS-Staat, bevor er dann zum einflussreichsten Managementvordenker in der frühen BRD wurde, in dessen Führungsmethode über drei Jahrzehnte hinweg Hunderttausende von Managementkräften geschult wurden.

Chapoutot präsentiert Reinhard Höhn in seinem Buch als "eine Art Josef Mengele des Rechts", der nach dem Zweiten Weltkrieg ungehemmt weiterwirken konnte. Während der eine seine Fähigkeit dazu nutzte, "bestialische Experimente an Zwillingen vorzunehmen", hätte der andere juristische Konzepte erdacht, "um die Gemeinschaft zu erneuern und Europa neu zu ordnen".

Auch wenn man sich angesichts der Karriere von Reinhard Höhn eher an Mengeles Doktorvater Otmar von Verschuer erinnert fühlt, der als Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik von den Möglichkeiten zu Menschenexperimenten in Auschwitz profitierte und in der Bundesrepublik Professor an der Universität Münster werden konnte, besteht an der Bedeutung Höhns als einer der Chefideologen des NS-Staates kein Zweifel.

Ist wirklich "keinerlei Bruch" zu erkennen?

Aber folgt daraus, dass es zwischen dem, was "Höhn in seinen Reden und Schriften vor 1945 vertreten hatte, und dem, was er nach 1956 lehrte, keinerlei Bruch zu erkennen ist", sondern "vielmehr eine beeindruckende Kontinuität" seiner Ideen?

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(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Ganz vorn dabei im NS-Staat: Reinhard Höhn (stehend) bei einer Tagung in der Akademie für deutsches Recht 1936, rechts Heinrich Himmler.

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(Foto: Bad-Harzburg-Stiftung)

Ganz der Guru: Reinhard Höhn im "Chefseminar" in Bad Harzburg 1965.

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(Foto: Bad-Harzburg-Stiftung)

Ganz modern: "Funktionstraining" bei einem Führungskräfte-Seminar am 1. Dezember 1967.

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(Foto: Bad-Harzburg-Stiftung)

Ganz kommod: Treffen in der Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft im Juni 1967.

Der Erfolg des Harzburger Modells basierte auf einer vergleichsweise einfachen Idee: Statt dass Vorgesetzte ihren Mitarbeitern im Detail vorgeben, was sie zu tun haben, und jeden einzelnen Arbeitsschritt überwachen, sollten sie mit den Mitarbeitern Ziele vereinbaren und lediglich die Erreichung dieser Ziele überwachen. In der Wahl der Mittel zur Erreichung dieser Ziele sollten die Mitarbeiter frei sein, weil sie selbst am besten wüssten, welche Entscheidung in einer konkreten Situation die richtige ist.

Doch das Führen durch die Vorgabe von Zielen war keine Erfindung von Reinhard Höhn. Schon im frühen zwanzigsten Jahrhundert wurde die Idee propagiert, dass sich Arbeiter im Rahmen von Zielvorgaben ihre Arbeit selbst organisieren könnten. So wurde ein Kontrastpunkt zu den Vorstellungen des Rationalisierungsexperten Frederick Taylor gesetzt, der im Rahmen seiner wissenschaftlichen Betriebsführung den ausführenden Arbeitern jeden Arbeitsschritt im Detail vorschreiben wollte.

In Armeen wurde - wie auch von Reinhard Höhn immer wieder herausgestellt - mit Verweis auf preußische Militärstrategen wie Scharnhorst die strikte Befehlstaktik, in der Vorgesetzte ihren Untergebenen jeden einzelnen Schritt vorgeben, durch eine Auftragstaktik ersetzt, in der die Untergebenen selbst entscheiden konnten, wie sie einen Auftrag genau ausführen.

Höhns Modell kam zur gleichen Zeit in den USA auf

Bei Chapoutot ist dieses Führen über Ziele jedoch ein Indiz dafür, wie stark die von Nationalsozialisten ersonnenen Modelle im Management bis heute nachwirken. Aber spätestens an einer Stelle hat die Kontinuitätserzählung von Reinhard Höhns Volksgemeinschaftsmodell im Nationalsozialismus zum Führen im Mitarbeiterverhältnis in der Bundesrepublik ein grundlegendes Problem.

Johann Chapoutot: Gehorsam macht frei. Eine kurze Geschichte des Managements – von Hitler bis heute. Aus dem Französischen von Clemens Klünemann. Propyläen- Verlag. Berlin 2021. 176 Seiten, 22 Euro. E-Book: 18,99 Euro. (Foto: N/A)

Das Grundprinzip des Harzburger Modells - das "Führen der Mitarbeiter über Ziele" - wurde parallel in den USA unter dem Begriff des "Management by Objectives" propagiert. Während das Konzept in Deutschland von einem ehemaligen Vordenker des NS-Staates entwickelt wurde, wurde das Konzept des "Management by Objectives" in den USA von Peter F. Drucker, einem aus einer ursprünglich jüdischen, dann zum Protestantismus konvertierten Familie stammenden Managementberater, vertreten, der vor den Nazis zuerst nach Großbritannien und dann in die USA geflohen war.

Es spricht wenig dafür, dass das Harzburger Modell, wie Chapoutot schreibt, illiberaler war als das Konzept des Management by Objectives. Eher im Gegenteil - während Reinhard Höhn im Harzburger Modell jede Verbindung mit dem von ihm während der Weimarer Republik und der NS-Zeit noch zentralen Gemeinschaftsgedanken vermied, stellte Drucker Gemeinschaft als eines der zentralen Prinzipien erfolgreichen Managements dar. Für ihn war die Gemeinschaftsbildung nicht nur eine Überlebensbedingung für Unternehmen, sondern auch für Gesellschaften insgesamt.

Durch seine Fixierung auf eine inhaltliche Kontinuitätsgeschichte von der NS-Zeit bis hin zur Bundesrepublik übersieht Chapoutot, dass der Niedergang des Harzburger Modells maßgeblich damit zusammenhing, dass es nicht elastisch genug gewesen ist, um sich veränderten Trends im Management anzupassen. Es war - nicht zuletzt durch die vorsichtige Vermeidung jeder Assoziation mit dem Gemeinschaftsgedanken - so stark durchformalisiert und verrechtlicht, dass in vielen Unternehmen der Vorwurf einer Überbürokratisierung aufkam. Es stellte also genau das Gegenteil von dem dar, was heute unter dem Begriff der Agilität in großen Teilen des Managementdiskurses en vogue ist.

Alte Nazis konnten sich schnell neu orientieren

Chapoutot unterschätzt die inhaltliche Wandlungsfähigkeit ehemaliger NS-Funktionäre. Gerade weil eine Tätigkeit für den NS-Staat in der Nachkriegszeit weitgehend tabuisiert war, waren ehemalige NS-Funktionäre nicht an ihre Selbstdarstellungen als Nationalsozialisten gebunden und konnten sich inhaltlich neu orientieren. Irgendwann sahen sich viele von ihnen so stark an ihre neuen Selbstdarstellungen in der Republik gebunden, dass sie sich vermutlich selbst als Demokraten begriffen.

Man macht es sich zu einfach, wenn man faschistische Tendenzen in demokratischen Staaten vorrangig anhand der Karrieren ehemaliger nationalsozialistischer Überzeugungstäter beobachtet. Für ein derartiges Vorgehen muss man lediglich in den in der Regel leicht zugänglichen Mitgliederverzeichnissen nationalsozialistischer Organisationen nachschauen und die Mitgliedschaft zum Ausgangspunkt einer Kontinuitätserzählung machen. Politisch viel gefährlicher - und wissenschaftlich interessanter - ist, dass sich aus der Mitte der Gesellschaft heraus faschistische Tendenzen ausbilden, ohne dass die beteiligten Personen jemals eine Karriere in einer nationalsozialistischen Organisation durchlaufen haben.

Stefan Kühl ist Professor für Organisationssoziologie an der Universität Bielefeld. Zuletzt erschien von ihm "Brauchbare Illegalität. Vom Nutzen des Regelbruchs in Organisationen" (Campus, 2020). Er leitet ein Forschungsprojekt zum Harzburger Modell.

© SZ vom 29.03.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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