Noch am Sonntagabend, wenige Stunden nach der Wahl der Union zur stärksten Kraft in Deutschland und von Friedrich Merz zum nächsten Bundeskanzler, griff in Israel Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zum Telefon. Er habe dem künftigen Kanzler gratuliert, ließ er am nächsten Morgen verbreiten. Merz habe sich bedankt – und sogleich angekündigt, Netanjahu zu einem offiziellen Besuch in Deutschland einzuladen, „in offener Missachtung der skandalösen Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs, den Ministerpräsidenten als Kriegsverbrecher einzustufen“, wie es die israelische Regierung formuliert.
Merz bestätigte am nächsten Morgen das Telefonat und auch, dass „wir Mittel und Wege finden werden, dass er Deutschland besuchen kann und auch wieder verlassen kann, ohne dass er in Deutschland festgenommen worden ist“. Merz halte es für eine „ganz abwegige Vorstellung“, wenn ein israelischer Ministerpräsident Deutschland nicht besuchen könne.
Der Haftbefehl aus Den Haag entspricht deutschem Recht
Allerdings ist der Haftbefehl nicht abwegig, den der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag im vergangenen November gegen Netanjahu, seinen früheren Verteidigungsminister Joav Gallant und den mittlerweile getöteten Militärchef der Hamas, bekannt als Mohammed Deif, erlassen hat. Er entspricht in Deutschland geltendem Recht. Netanjahu und Gallant werden Kriegsverbrechen im Gazastreifen vorgeworfen. In seiner Mitteilung nannte der Gerichtshof einerseits „Aushungern als Methode der Kriegsführung“ sowie „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, also „Mord, Verfolgung und andere unmenschliche Handlungen“.
Krieg in Nahost:Messerattacke in Haifa – Attentäter war auch deutscher Staatsbürger
Am Busbahnhof in Haifa greift ein Mann Menschen mit einem Messer an – ein Opfer stirbt, der Angreifer wird erschossen. Und: Israel stoppt alle Hilfslieferungen für den Gazastreifen.
Die Bundesrepublik hat den Weltstrafgerichtshof anerkannt, ist seit seiner Gründung 2002 einer von 125 Unterzeichnerstaaten – sie muss seine Entscheidungen anerkennen und so wie viele andere Staaten auch umsetzen. Auch bei der Einladung des russischen Staatschefs Wladimir Putin zum Brics-Gipfel im Sommer 2023 durch Südafrika hatte Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) wegen des Haftbefehls für ihn auf Putins Festnahme gepocht. „Das Völkerrecht ist an dieser Stelle klar“, sagte sie. Putin sagte schließlich seine Teilnahme ab und schickte seinen Außenminister Sergej Lawrow nach Südafrika. Baerbock sagte anschließend, dies zeige, „dass diejenigen, die massiven Bruch des Völkerrechts begehen, damit nicht einfach wie bisher in der Welt herumreisen können“. Das könnte sich nun mit der Ansage des CDU-Chefs und möglichen Kanzlers ändern.
Die SPD unterstrich noch am Montag die zentrale Bedeutung des Internationalen Strafgerichtshofes, die Linke warf Merz Doppelmoral vor. Die Umsetzung eines Haftbefehls ist außerdem Sache der Justiz, nicht der Politik. Welche „Mittel und Wege“ stünden einem Kanzler Merz also zur Verfügung, um Netanjahu ohne Verhaftung zu empfangen?
Es gebe keine Mittel und Wege, sagt ein Experte
„Keine“, sagt der Straf- und Völkerrechtler Kai Ambos der Süddeutschen Zeitung. „Es gibt eine Pflicht, den Haftbefehl des Internationalen Strafgerichtshofs zu vollstrecken.“ Sie ergebe sich aus dessen Statut sowie aus dem deutschen Gesetz. Danach müsse die zuständige Generalstaatsanwaltschaft, also etwa die Berlins oder des Ergreifungsorts, die Festnahme veranlassen und das Überstellungsverfahren nach Den Haag organisieren. Werde Netanjahu, sagt Ambos weiter, bei einem Besuch nicht verhaftet, verstoße Deutschland gegen Völkerrecht und innerstaatliches Recht. Dies würde nicht nur den Internationalen Strafgerichtshof und dessen Glaubwürdigkeit schwächen, sondern hätte auch Konsequenzen innerhalb Deutschlands, so Ambos.
Er weist darauf hin, dass sich die Exekutive, also der neue Bundeskanzler oder Justizminister, mit einem solchen Schritt in ein juristisches Verfahren einmischen würde. „In einem Rechtsstaat, in dem Gewaltenteilung existiert und die Justiz unabhängig ist, kann man letztlich nicht politisch steuern, was Staatsanwaltschaft und Gerichte machen: Das sind keine Erfüllungsgehilfen der Politik“, sagt Ambos. Eine Nicht-Verhaftung Netanjahus könnte weiter dazu führen, dass letztlich auch Haftbefehle deutscher Richter und Gerichte nicht mehr ernst genommen und stattdessen angegriffen würden, so wie man es ja derzeit in den USA beobachten kann. „Der Internationale Strafgerichtshof verdient die gleiche Unterstützung wie unsere deutschen Gerichte“, sagt Ambos.
Friedrich Merz hatte das erste Mal in einer außenpolitischen Grundsatzrede Ende Januar erklärt, dass er bereit wäre, den israelischen Premier nach Deutschland einzuladen. Vor zwei Wochen sagte er der Jüdischen Allgemeinen: „Unter meiner Führung wird der israelische Ministerpräsident unbehelligt nach Deutschland reisen können.“ Die Frage, wie er das konkret umsetzen will und was dies für den Umgang mit anderen mutmaßlichen Kriegsverbrechern bedeute, beantwortete die CDU bislang nicht.
Die Ampelkoalition hatte sich auch in Bezug auf Netanjahu anders positioniert. Niemand stehe über dem Gesetz, sagte Außenministerin Baerbock. Dem israelischen Ministerpräsidenten gibt Merz’ Ankündigung kurz nach seiner Wahl Rückenwind: Nicht nur er selbst hatte den Haftbefehl im November verurteilt, auch in der israelischen Bevölkerung war er auf breite Ablehnung gestoßen.