Der Wahlkampf geht gerade erst richtig los, aber ganz nüchtern lässt sich festhalten: Friedrich Merz ist an diesem Sonntagnachmittag schon im Partymodus. Es ist der 149. Geburtstag von Konrad Adenauer, der ihn auf den Petersberg bei Bonn geführt hat, für seinen ersten öffentlichen Auftritt im Jahr 2025, in dem er sich anschickt, als Bundeskanzler in Adenauers Fußstapfen zu treten. Im Zeichen des großen Alten soll eine neue Zeit beginnen, auf dem Petersberg weht neben einem sehr garstigen echten Wind auch der Wind der Geschichte.
Unter anderem setzte der neue Regierungschef Adenauer im September 1949 hier, im Grandhotel 336 Meter über dem Städtchen Königswinter, seine schwarzen Lackschuhe auf jenen Teppich, der allein den alliierten Hohen Kommissaren vorbehalten sein sollte. Vielleicht war es nur eine Unachtsamkeit, aber viel schöner ist die Lesart, dass Adenauer damit das Selbstbewusstsein der blutjungen Bundesrepublik demonstrieren wollte. Und nun demonstriert der CDU-Vorsitzende Merz auf dem Petersberg also sein Selbstbewusstsein, demnächst diese Bundesrepublik in schweren Zeiten regieren zu wollen. Klein redet er die Sache jedenfalls nicht.
Eine Wahl „unter den Vorzeichen von politischen Grundentscheidungen“
Vor fast jeder Wahl werde behauptet, dies wäre „nun wirklich eine Richtungsentscheidung“, sagt Merz am Rednerpult, hinter ihm eröffnen die Panoramafenster einen weiten Blick in den Regen über dem Rheintal. Richtig sei das „ganz sicher“ für die Wahl 1949 gewesen, und auch für 1953 und 1990 will er das Prädikat gern gelten lassen. In anderen Fällen sei es mit der Bedeutung auch schon mal übertrieben worden. „Aber die Wahl 2025, die steht schon fast wie 1949 wieder unter den Vorzeichen von politischen Grundentscheidungen.“

Der Zahlenmensch Merz ist kein Typ, der zum Pathos neigt, doch so viel gönnt er sich jetzt zur Feier des Tages mal: „Die Geschichte unseres Landes schreibt sich nicht von selbst. Sie wird geschrieben.“ Und idealerweise, so darf man ihn wohl verstehen, nicht weiter von Olaf Scholz, nicht von Robert Habeck und schon gar nicht von der Frau, die bald ein Videodate mit Elon Musk hat. Der Favorit auf die Kanzlerschaft formuliert einen Anspruch an sich selbst: Die anstehenden Entscheidungen dürften sich nicht „an der Demoskopie ausrichten“, sondern an „unseren inneren Grundüberzeugungen“ und den Interessen des Landes.
Vor seiner Rede hat Merz Adenauers Grab auf dem nahen Rhöndorfer Waldfriedhof besucht, und selbstverständlich hat er auch bereits einem weiteren eminenten Staatsmann gratuliert, der am 5. Januar Geburtstag hat. Markus Söder soll sich sehr gefreut haben. Wenigstens nicht auszuschließen ist, dass Merz darüber hinaus den Jubilar Frank-Walter Steinmeier mit guten Wünschen bedacht hat, und als betonhart sicher kann natürlich gelten, dass er den 101. Geburtstag seines Vaters nicht vergessen hat. Nach der Adenauer-Feierstunde, die sein Parteifreund Hendrik Wüst mit einem ausgedehnten Co-Referat beschließt, das man ebenfalls für eine Demonstration von Selbstbewusstsein halten darf, wird Merz dann auch schnell fort sein.

Die Festansprache des Kandidaten hat die Konrad-Adenauer-Stiftung unter dem Titel „Deutschland – ein verlässlicher Partner für Freiheit, Wohlstand und Sicherheit“ angekündigt. So schlimm wird es dann aber nicht. Merz hält eine Grundsatzrede, die politische Details fast komplett ausspart, sondern sich auf ein Signal konzentriert, welches das geneigte Publikum am Ende mit Applaus im Stehen quittiert: Diese Reise ins Kanzleramt beginnt tief in der Vergangenheit, an den konservativen Wurzeln der Union. Wo die Reise programmatisch hinführt? Das versucht Merz in schlanken 35 Minuten zu skizzieren, zunächst außenpolitisch.
Die Welt sei in Bewegung, stellt er fest, „wir sind mittendrin in einer Phase des Umbruchs“. Spätestens mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine sei „die regelgeleitete Ordnung seit 1990 förmlich aus den Angeln gehoben worden“. Daraus leitet Merz seine sicherheitspolitische Richtschnur ab: „Wir wollen uns verteidigen können, um uns nicht verteidigen zu müssen.“ Praktisch heiße das: „Europa, nicht nur Deutschland, muss endlich erwachsen werden.“
Ganz konkret bedeute das auch, das Erbe Adenauers zu hüten: die Westbindung, die deutsch-französische Freundschaft, die transatlantischen Beziehungen. Im Hotel am Petersberg, das einst als Gästehaus der Bundesregierung diente, hat diese Forderung einen besonderen Klang. Um einen Punkt erlaubt sich Merz die Agenda des großen Ahnen zu ergänzen: „Ich empfehle uns, mindestens genauso dringend den Blick nach Osten zu richten“, speziell ins Baltikum und zum wichtigen Partner Polen.
Eine „prosperierende Wirtschaft“sei Voraussetzung für alles
Obwohl aus Merz in diesem Leben kein Entertainer mehr werden wird, bringt er zwischenzeitlich den Saal zum Lachen. Er erinnert an die Massenproteste gegen den Nato-Doppelbeschluss im „Berliner Hofgarten“ – und korrigiert sich blitzschnell selbst: „Bonner Hofgarten!“ Es ist ein Fehlerchen, aus dem Merz, 69, womöglich sogar Hoffnung schöpfen darf. Bislang war er eher damit aufgefallen, gelegentlich von Bonn zu reden, wenn Berlin gemeint war, was ihm Übelwollende gleich als gefährliche Rückwärtsgewandtheit auslegten. Dabei strebt er doch eigentlich nach vorne, etwa in der Wirtschaftspolitik, der er das letzte Drittel seiner Rede widmet.
Da brauche es einen „grundsätzlichen Politikwechsel“, sagt er, und dann folgt ein Satz in diesem unverwechselbaren Merz-Deklamationston, der nicht gerade zu Widerspruch ermuntert: „Der Kern unseres Wohlstands wird auch in den nächsten Jahrzehnten in der industriellen Wertschöpfung liegen und nicht etwa im Hinübergleiten in eine reine Dienstleistungsgesellschaft.“ Eine „prosperierende Wirtschaft“, fährt er fort, sei schließlich Voraussetzung für alles: für Sozialpolitik, für Umweltpolitik, für das Vertrauen der Bürgerinnen und Bürger in einen funktionierenden Staat.
Bei Adenauer, sagt Merz, finde sich der schöne Gedanke, dass „der Gang der Geschichte auf das Gute zuläuft“, aber selbstverständlich sei das heute eben nicht. Man müsse manche Menschen vielleicht sogar aufs Neue davon überzeugen, dass die parlamentarische Demokratie das richtige Modell für diese Zeit sei. Er wagt eine Prognose: „Wir werden uns alle für Wohlstand, Freiheit und Sicherheit etwas mehr einsetzen und anstrengen müssen.“ Auf welche Anstrengungen sich die Wählerinnen und Wähler einstellen müssen? Das führt Merz sicher bei anderer Gelegenheit genauer aus.
Der Petersberg war oft ein Ort der Diplomatie, bei Afghanistan-, Klima- oder Kosovo-Konferenzen. Das hat sich Friedrich Merz insofern zu Herzen genommen, als er am Sonntag zwar mehr oder minder offiziell in den Wahlkampf startet, wahlkampftypische Attacken auf die Konkurrenz aber ziemlich konsequent vermeidet. Einmal, es geht um die Wirtschaft, entschuldigt er sich sogar für eine „parteipolitisch eingefärbte“ Bemerkung. Ein ganz herrlicher Moment. Egal, was noch passiert bis zur Wahl am 23. Februar: Das politische Jahr 2025 fängt immerhin ziviler an, als das politische Jahr 2024 zu Ende ging.