Süddeutsche Zeitung

Friedensnobelpreis 2015:Licht in die grauen Winkel der Gesellschaft

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Der Friedensnobelpreis für das tunesische Quartett ist von symbolischer Größe. Er macht sichtbar, was der Westen lange übersehen hat.

Kommentar von Stefan Kornelius

Das Friedensnobelpreis-Komitee hat wieder einmal gezeigt, wie wenig berechenbar seine Entscheidungen sind und welche Wirkung gerade mit dem Überraschungseffekt erzielt werden kann. Die Preisentscheidung zugunsten des tunesischen Dialog-Quartetts ist klug, unaufgeregt und voller symbolischer Größe. In einem Ozean der Gewalt steht dieses Quartett für den mühevollen Kampf einer verletzbaren Bürgergesellschaft gegen die Kräfte des Extremismus und der Radikalität. Tunesien ist weder in einen Bürgerkrieg gerutscht, noch haben Extremisten das Land bisher aus der Bahn werfen können. Das Quartett steht somit als Beispiel für die zehrende Arbeit gegen die Kräfte des Niedergangs in der arabischen Welt.

Tunesien und sein Staatsrettungs-Quartett geben eine Anleitung dafür, wie auch andere arabische Gesellschaften aus dem selbstzerstörerischen Kreislauf von religiösem Hass und Gewalt entkommen könnten. Der Friedensnobelpreis belohnt diese viel zu wenig beachtete Anstrengung und zeigt der ganzen Welt, wie tatsächlich geholfen werden kann in dieser Zerfallsregion. Friedenssicherung beginnt mit Prävention, heißt die Botschaft. Der Frieden bleibt dort erhalten, wo vorgesorgt wird und wo sich eine Gesellschaft selbst gegen den Zerfall stemmt.

Tunesien wird in der Europäischen Union gerne als Modell gepriesen. Nach dem jüngsten Terror-Überfall auf den Badestrand von Sousse besann sich die Union wieder einmal auf ihre Hilfspflicht und bot eilfertig mehr Unterstützung an. Der Friedensnobelpreis ist eine deutliche Erinnerung, dass die nacheilende Hilfe zu spät kommt. Gesellschaften am Rande des Abgrunds brauchen dauerhaft Aufmerksamkeit. Für diese Aufmerksamkeit ist nun gesorgt.

Und noch eine Botschaft wird mit der Entscheidung transportiert: Der Westen ist in all den Jahren der Kriege und Terrortaten im Nahen Osten fürchterlich abgestumpft. Er hat kapituliert vor der Monstrosität der Taten eines IS oder eines Assad. Die stabilisierende Arbeit in den grauen Winkeln einer Gesellschaft wird nicht mehr wahrgenommen, sie ist nicht mehr aufregend genug. Stattdessen versteigt man sich hierzulande lieber in absurde Diskussionen, ob nun die Bundeskanzlerin oder doch lieber gleich der Papst den Friedensnobelpreis bekommen könnte. Die Entscheidung zugunsten des Quartetts sollte all die Selbstverliebten beschämen, deren Fantasie den eigenen Tellerrand nicht mehr überwindet.

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