Rechtsextremisten:Ein brutaler Überfall und seine Folgen

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Tatort Fretterode im Eichsfeld, im Dreiländereck von Thüringen, Hessen und Niedersachsen: Mit einem schwerem Schraubenschlüssel in der Faust verfolgt ein maskierter Mann die beiden Journalisten. Es soll sich um einen der beiden angeklagten Neonazis handeln. (Foto: M.M.)

Zwei Journalisten werden mit Messer und Schraubenschlüssel attackiert. Die mutmaßlichen Täter stehen schnell fest: Es sind bekannte Neonazis. Trotzdem dauert es Jahre, bis nun endlich der Prozess beginnt.

Von Antonie Rietzschel, Leipzig

Vor ein paar Tagen war es wieder so weit - Michael Müller brauchte eine Auszeit, also ging er mit Freunden wandern. Ein gemeinsames Picknick sollte ihm die Ruhe und Gelassenheit geben, die er allein gerade selten findet. Nachts kann er kaum schlafen. Müller, der in Wirklichkeit anders heißt, plagen Albträume, über deren Inhalt er nicht reden mag. Nur so viel sagt er: Sie werden schlimmer, je näher der Termin rückt, auf den er jahrelang gewartet hat, den er aber auch fürchtet. Weil dieser Termin die Erinnerungen an den Nachmittag des 29. April 2018 wachruft, als Neonazis in der thüringischen Provinz auf ihn losgingen - mit Schraubenschlüssel, Baseballschläger und einem Messer.

An diesem Dienstag beginnt am Landgericht Mühlhausen der Prozess gegen die mutmaßlichen Täter. Nordulf H. und Gianluca B. sind unter anderem wegen Sachbeschädigung und gefährlicher Körperverletzung angeklagt. Das Gericht hat elf Verhandlungstage angesetzt. Als Nebenkläger muss Michael Müller nicht durchgehend dabei sein: "Aber ich werde jeden einzelnen Tag im Gerichtssaal sitzen." Er will wissen, wie die Strafkammer mit den Angeklagten umgeht, die Zeugen befragt. Ihm ist es wichtig, dass sich das Gericht Zeit nimmt, um alle Aspekte dieser brutalen Gewalttat auszuleuchten. Und Michael Müller interessiert, ob bekannte Rechtsextreme zur Unterstützung von Nordulf H. und Gianluca B. anreisen.

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Rechtsextreme Netzwerke auszuforschen, das sei sein Beruf, sagt Müller. Wenn er davon erzählt, klingt es eher nach einer Berufung. Der 29-Jährige wohnt in Göttingen. Fast jede Woche reist er durch Deutschland zu rechtsextremen Aufmärschen. Müller macht Fotos, dokumentiert, welche Neonazi-Größen sich zusammentun. Seine Recherche-Ergebnisse veröffentlicht er unter Pseudonym bei Twitter, oder auf linken Blogs. Manchmal bitten auch Fernsehsender um seine Expertise. Denn Müller ist gut vernetzt, bekommt Hinweise auf konspirative Neonazi-Treffen, von denen nicht mal Polizei oder Verfassungsschutz etwas wissen. So war es auch im April 2018.

"Plötzlich sprang einer über die Mauer"

Einer seiner Informanten gab ihm den Tipp, dass in dem kleinen thüringischen Dorf Fretterode ein Vorbereitungstreffen für einen Neonazi-Aufmarsch stattfinden soll. In einem alten Gutshaus. Müller kennt das Gebäude gut. Noch besser weiß er über den Mann Bescheid, der darin wohnt. Thorsten Heise ist einer der einflussreichsten Neonazis Deutschlands. Szenekennern gilt er als zentrale Figur der in Deutschland mittlerweile verbotenen "Combat 18"-Bewegung, auch bei "Blood & Honour" war er aktiv. Es gibt Verbindungen zwischen ihm und dem Umfeld der Terrorgruppe NSU. Auch den Mörder des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke, Stephan E., kennt Heise persönlich. Der frühere NPD-Politiker verdient gutes Geld an der Szene, die er mit aufgebaut hat. Über seinen Online-Shop verkauft er CDs rechtsextremer Bands, Schlagstöcke und Weinflaschenhalter aus Holz.

Als Müller von dem geplanten Treffen in Fretterode hörte, fuhr er hin. Gemeinsam mit seinem Kollegen Hannes Rau, der ebenfalls anders heißt. Ihren schwarzen BMW parkten sie in der Nähe des Gutshauses. Aus dem Auto heraus fotografierte Müller die Männer, die dort ein und aus gingen. "Plötzlich sprang einer über die Mauer", erzählt Michael Müller. Er und Rau fuhren weg, entschieden sich dann aber, noch mal am Haus vorbeizufahren. Plötzlich rannte ein Mann auf ihr Auto zu. Über Mund und Nase hatte er sich ein schwarzes Tuch gezogen, in seiner Faust hielt er einen Schraubenschlüssel. Die Staatsanwaltschaft Mühlhausen ist davon überzeugt, dass es sich bei dem Angreifer um Nordulf H. gehandelt haben muss, den Sohn von Thorsten Heise.

Beim Anblick des heranstürmenden H. legte Hannes Rau den Rückwärtsgang ein, gab Gas. Müller drückte immer wieder auf den Auslöser seiner Kamera. Er bekomme heute noch kurz Herzrasen, wenn er sich die Fotos von damals anschaue, sagt er.

Nordulf H. gab seinen Sprint schließlich auf, sprang in ein wartendes Auto. Am Steuer, so steht es in der Anklageschrift, saß Gianluca B. Die beiden Männer folgten dem schwarzen BMW, versuchten ihn von der Straße abzudrängen. Als Hannes Rau den Wagen wenden wollte, landete er im Straßengraben. Nordulf H. zertrümmerte die Fenster ihres Autos, mit einem Messer stach er immer wieder nach Michael Müller, erwischte ihn am Oberschenkel. Als Hannes Rau aus dem Auto stieg, schlug Gianluca B. ihm mit dem Schraubenschlüssel gegen den Kopf.

Obwohl die Polizei die mutmaßlichen Täter mithilfe von Fotos und Aussagen schnell identifizieren konnte, dauerte es Wochen bis zu deren Vorladung. Und als die Staatsanwaltschaft im Februar 2019 Anklage erhob, lautete der Vorwurf nicht auf versuchten Totschlag, wie es die Anwälte von Müller und Rau angesichts des brutalen Vorgehens der Täter eigentlich erwartet hätten.

Müller fährt weiter zu Neonazi-Aufmärschen

Dann verschob das Landgericht immer wieder den Prozessbeginn, erst wegen Corona, dann fehlte es an Personal in der zuständigen Strafkammer. Mittlerweile sind mehr als drei Jahre seit dem Überfall vergangen. "Viel zu viel Zeit", findet Michael Müller. Wenn er mit seiner Kamera bei Neonazi-Aufmärschen auftaucht, wird er häufig erkannt. Manche Rechtsextreme fragen ihn ganz unverhohlen, ob er wieder ein Messer im Oberschenkel haben wolle. Er erlebt eine Szene, die selbstbewusst ist, keine Angst vor Konsequenzen hat. Was vielleicht auch daran liegt, dass die Justiz in der Vergangenheit immer wieder Verfahren gegen rechtsextreme Gewalttäter verschleppte, Urteile deswegen milder ausfielen.

Hannes Rau musste seine Arbeit als freier Journalist aufgeben. Seit dem Schlag gegen Kopf litt er immer wieder unter Kopfschmerzen. Als er deswegen ins Krankenhaus ging, zeigte das Röntgenbild einen Schädelbruch, der sich auch noch entzündet hatte. Rau musste operiert werden. Sein Anwalt hält es seitdem für möglich, dass das Gericht Nordulf H. und Gianluca B. doch noch wegen versuchten Totschlags verurteilen könnte.

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