Der Schrecken beginnt in einer Sommernacht. Am 27. Juli 2015, 0.45 Uhr, wacht Michael Richter von einem lauten Knall auf. Er schaut aus dem Fenster. Auf dem Parkplatz steht sein grüner Golf, die Scheiben zersplittert, schwarzer Rauch steigt in die Nachtluft. Heute fällt es Richter schwer, in Worte zu fassen, was er bei dem Anblick gefühlt hat. Humor und Sarkasmus waren schon immer die liebsten Waffen des ehemaligen Linken-Politikers. Jetzt fungieren sie als Schutzmechanismus. "Ich dachte, dass ich die geplante Inspektion in der Werkstatt für den nächsten Tag absagen kann." Richter lacht. Dann sagt er: "Scheiße." Im Innersten ist der 42-Jährige fassungslos darüber, was damals passiert ist.
Der Angriff auf Richters Auto markiert den Beginn einer ganzen Anschlagsserie, die die sächsische Kleinstadt Freital 2015 erschütterte. Über Monate terrorisierte die "Gruppe Freital" Flüchtlinge und deren Unterstützer. Im Prozess gegen deren Mitglieder fordert die Bundesanwaltschaft Haftstrafen von bis zu elf Jahren, wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung und versuchten Mordes. Am Mittwoch wird das Urteil gesprochen.
Es gibt viele Geschichten, die sich am Beispiel der "Gruppe Freital" erzählen lassen. Darüber, wie erschreckend wenig Behörden und Justiz aus den Fehlern um den NSU gelernt haben. Darüber, wie 2015, im Jahr der Flüchtlingskrise, aus vermeintlich normalen Bürgern Bombenleger wurden. Doch dies ist die Geschichte über einen Lokalpolitiker, der sich für die Aufnahme von Flüchtlingen einsetzte und schließlich selbst floh.
Michael Richter hat Freital verlassen. Selbst nach der Festnahme der Mitglieder der mutmaßlichen Terrorgruppe fühlte sich der Sozialpädagoge nicht mehr sicher. Ermittlern zufolge war ein weiterer Anschlag auf ihn geplant - diesmal sollte er im Auto sitzen. In Freital leben immer noch Unterstützer der Gruppe. Was, wenn die zu Ende bringen, was die "Gruppe Freital" begonnen hat? Richter lebt seit Dezember 2017 in Bayern. Doch nun besucht er seine alte Heimat und erklärt sich zu einer Spazierfahrt bereit, durch einen Ort, über den Richter voller Bitterkeit sagt: "Das ist nicht mehr meine Stadt."
Freitals Häuser reihen sich über sechs Kilometer an der Durchfahrtsstraße aneinander. Richter lenkt seinen gelben Audi eine Serpentine hinauf. Auf einem alten Firmenschild steht in verblassten Buchstaben "No Asyl". Hinter dichten Tannen steht das ehemalige Hotel "Leonardo", das 2015 als Erstaufnahmeeinrichtung diente. Das Gebäude ist verlassen. Durch die Glastür sind noch die selbstgebastelten Girlanden der Helfer zu sehen. Auf einer steht: "Ich will nicht in einem Land leben, in dem so etwas passiert." Kein Willkommensgruß, sondern ein Kommentar zu den Ereignissen, die den Anschlägen vorausgingen.
Ein Ort im Ausnahmezustand
Als im März 2015 die ersten Flüchtlinge ankommen, befindet sich die Stadt Freital im Ausnahmezustand. Michael Richter meldet eine Kundgebung vor dem "Leonardo" an, um die Menschen zu empfangen und willkommen zu heißen. Es kommen ungefähr 100 Teilnehmer. 1500 Gegendemonstranten marschieren unter dem Motto "Nein zum Hotelheim" durch Freital. Mit Gewalt versuchen sie, die Polizeiketten zu durchbrechen.
Die Stadt kommt wochenlang nicht zur Ruhe. Es entsteht eine selbsternannte Bürgerwehr, die auf Facebook gegen Flüchtlinge und deren Unterstützer hetzt. Aus deren Anhängerschaft bildet sich die "Gruppe Freital". Immer wieder kommt es zu Übergriffen auf Geflüchtete. Die CDU muss eine Diskussionsveranstaltung wegen massiver Drohungen absagen. Freital mit seinen rund 40 000 Einwohnern fällt bundesweit als Stadt der Feindseligkeit auf.
Michael Richter, damals Fraktionsvorsitzender der Linken, kandidiert für das Amt des Oberbürgermeisters. Während einer Veranstaltung sagt er, Deutschland brauche frisches Blut. Bei Facebook wird er als "elende Ratte", "Blutschänder" und "Abschaum" beschimpft. Er erhält Morddrohungen.
Dann explodiert sein Auto. Richter erhält Zuspruch aus der ganzen Republik, auch die damalige Integrationsbeauftragte Aydan Özoğuz schickt ihm einen Brief. Die Freitaler reagieren gleichgültig. Richters Nachbar wird später vor Gericht sagen, der Linken-Politiker sei selbst schuld gewesen. Schließlich habe er Flüchtlinge unterstützt.
Der Weg zu Richters alter Wohnung führt vorbei an einem Mehrfamilienhaus. Hier explodierte im September 2015 ein weiterer Sprengsatz der "Gruppe Freital", direkt vor dem Fenster einer Wohnung, in der Flüchtlinge untergebracht waren. Die Explosion sprengte ein Stück Mauer heraus. An der Fassade steht bis heute "NS" geschrieben.
Richter fährt vorbei am Bürgerbüro der Linken, mehrfach Ziel der "Gruppe Freital". Ein Sprengsatz ließ die große Glasscheibe bersten. Wenige Tage später hing dort eine Liste mit Namen engagierter Freitaler. Richters Name stand ganz oben, dahinter drei Haken. Ende Oktober 2015 gingen vor einer weiteren Flüchtlingsunterkunft drei Sprengsätze hoch. Ein junger Syrer wurde von einer Glasscherbe im Gesicht getroffen und verletzt.
Es gibt Freitaler, die die Taten herunterspielen. Dazu gehört der amtierende Oberbürgermeister Uwe Rumberg (CDU). Von "Lausbuben" ist die Rede, die Scheiße gebaut hätten. "Die haben nicht kapiert, was passiert ist", sagt Michael Richter. Er selbst hat erst im März 2017 realisiert, in welcher Gefahr er sich befand. Zum ersten Mal schaute er in die Akten und konnte nicht fassen, was er las. "Kurz nachdem ich mir ein neues Auto gekauft hatte, kannten sie die Farbe und das Kennzeichen."
"Ich wünschte, ich könnte hier noch leben"
Richter hatte nach dem Anschlag einen Tiefgaragenplatz gemietet. Jeden Tag fuhr er zu unterschiedlichen Zeiten zur Arbeit in einer Rehaklinik in Altenberg. "Ich wollte keine Routine aufkommen lassen." Richter arbeitete absichtlich länger. Die Wochenenden verbrachte er außerhalb der Stadt. Beim Blick in die Akten wurde Richter klar, dass seine Vorsichtsmaßnahmen nichts gebracht hatten. "Die wussten über jeden meiner Schritte Bescheid." Als er im April 2017 unter Tränen vor Gericht als Zeuge aussagte, stand sein Entschluss fest: Er muss Freital verlassen.
Dresdner Straße 309 e. Hier hat Richter jahrelang gewohnt. Sein Name steht noch an der Klingel. Er drückt auf den Knopf. Doch niemand öffnet. "Ich wünschte, ich könnte hier noch leben", sagt Richter und schaut hinauf zu seinem alten Balkon, von dem er den kleinen Park überblickte. In der Anklageschrift gegen die "Gruppe Freital" heißt es, die Angeklagten hätten Flüchtlinge vertreiben und deren Helfer einschüchtern wollen. Tatsächlich sind die meisten Asylbewerber weggezogen. Auch Richter wird nicht mehr zurückkehren. Patrick F., einer der Hauptangeklagten im Prozess, hat ihm einen Brief geschrieben, bittet ihn um Entschuldigung. Eine Entschuldigung, die Richter nicht annehmen kann.