Claudia Thiel hat Angst. Ihr richtiger Name darf auf keinen Fall in der Zeitung stehen. "Dann wäre mein Job weg", sagt sie. Thiel hat nicht irgendeinen Job. Sie arbeitet für ein Verfassungsorgan, den Deutschen Bundestag.
Die junge Frau führt Besucher durch den Reichstag. Sie hält Vorträge über die Arbeit der Abgeordneten. Sie informiert über das Parlament. Thiel gefällt ihr Job, weil sie den Bürgern die Demokratie ein Stückchen näherbringen darf, auch wenn sie nicht angestellt, sondern freie Mitarbeiterin ist. Umso enttäuschter ist sie darüber, wie ihr Auftraggeber, die Bundestagsverwaltung, sie und andere Honorarkräfte im Referat Öffentlichkeitsarbeit und Besucherdienst behandelt. Es geht dabei um die Frage, ob der Bundestag sie korrekt bezahlt. Und das ist mittlerweile sogar ein Fall für die Staatsanwaltschaft Berlin.
Diese muss "gegen Verantwortliche des Bundestags wegen des Vorwurfs des Vorenthaltens von Arbeitsentgelt" ermitteln, nachdem sie zuvor das Verfahren eingestellt hatte. Dies geht aus einem Schreiben der Generalstaatsanwaltschaft Berlin hervor, das der Süddeutschen Zeitung vorliegt. Diese hatte die untergeordneten Staatsanwälte angewiesen, wieder tätig zu werden.
Der Vorwurf ist schwerwiegend: Hat die Bundestagsverwaltung bewusst Thiel und anderen Arbeitskräften die Sozialversicherungsbeiträge vorenthalten, was laut Strafgesetzbuch mit einer Freiheitsstrafe von bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe geahndet wird? Hat der Bundestag also "Scheinselbständige" beschäftigt und damit gegen seine eigenen Gesetze verstoßen?
Die Deutsche Rentenversicherung (DRV), deren Betriebsprüfer alle Unternehmen kontrollieren, ist davon überzeugt. Sie will für 40 Honorarkräfte, die etwa bei Messen in der mobilen Öffentlichkeitsarbeit tätig waren, für mehrere Jahre nachträglich Sozialabgaben erheben. Sie ist sich sicher, dass Mitarbeiter wie Thiel viele Jahre abhängig beschäftigt waren. Die Bundestagsverwaltung sieht das anders: Es sei "unzweckmäßig", solche Kräfte sozialversicherungspflichtig zu beschäftigen, "weil die Einsatzorte und -zeiten stark differieren".
Die Regeln sind im Prinzip klar: Selbständig ist jemand, der über seine Arbeitszeit in einer eigenen Betriebsstätte frei verfügen kann und ein unternehmerisches Risiko trägt. Als Arbeitnehmer, für den der Arbeitgeber Sozialabgaben zahlen muss, gilt dagegen jeder, der für einen Betrieb arbeitet und dort dem Weisungsrecht von Vorgesetzten unterliegt und Art, Dauer und Ort seiner Tätigkeit nicht frei bestimmen kann.
Nun kann jeder Arbeitnehmer sich an die DRV wenden und seinen Status, ob selbständig oder angestellt, klären lassen. Das hätten Thiel und etliche ihrer Kollegen längst getan - nur: Sie trauen sich nicht. "Wer das tut, bekommt keine Aufträge mehr und fliegt raus", sagt sie. So erging es jedenfalls einem von ihnen, der sich an die Rentenversicherung und die damalige Vizepräsidentin des Bundestags, Gerda Hasselfeld (CSU), gewandt hatte.
Der Briefeschreiber hatte es gewagt, auf die Probleme der freien Mitarbeiter aufmerksam zu machen - und bekam prompt keine Aufträge mehr. Da half es auch nicht mehr, dass die Rentenversicherung seine Sicht der Dinge bestätigte. In deren amtlichem Bescheid steht, dass der Beschwerdeführer neun Jahre lang beim Bundestag abhängig beschäftigt war, ohne die fälligen Sozialabgaben erhalten zu haben. In der sechsseitigen Begründung wird dies unter anderem sogar mit der Kleiderordnung begründet. So habe laut Vertrag sein äußeres Erscheinungsbild "dem Ansehen des Deutschen Bundestags als Verfassungsorgan Rechnung zu tragen. Dies ist ein Indiz dafür, dass Sie nicht als gleichberechtigter Vertragspartner mit der notwendigen Eigenverantwortung eines Selbständigen angesehen wurden."
Ob der Bundestag wie viele andere Unternehmen Scheinselbständige beschäftigt hat, muss nun das Berliner Sozialgericht entscheiden. Bei dem Streit geht es aber nicht nur um Sozialabgaben: Thiel und ihre Kollegen sollen jetzt auch noch, je nach Verdienst, bis zu 50 000 Euro an Mehrwertsteuer ans Finanzamt nachzahlen. Und auch hier stellt sich die Frage, ob sich der Bundestag wie ein vorbildlicher Arbeitgeber verhält.
Wenn ein Selbständiger (oder Scheinselbständiger) eine Rechnung schickt, muss er darauf die Umsatz- beziehungsweise Mehrwertsteuer getrennt ausweisen. Den erhaltenen Betrag muss er dann an den Fiskus weiterreichen. So war es auch beim Bundestag. Bis Anfang der neunziger Jahre erhielten die Honorarkräfte ein Formblatt für die Abrechnung ihrer Einsätze. Für die Umsatzsteuer war darin eine eigene Zeile vorgesehen.
Nachzahlen, obwohl die Umsatzsteuer nie verrechnet wurde
Danach änderte der Bundestag die Rechnungsformulare. Darauf tauchte die Umsatzsteuer - anders als in der sonst üblichen Praxis im Geschäftsleben - nicht mehr auf. In einem Rahmenvertrag wurden die Mitarbeiter lediglich darauf hingewiesen, dass sie für alle steuerlichen Angelegenheiten selbst verantwortlich seien. Ob die Honorarkräfte tatsächlich umsatzsteuerpflichtig sind, blieb jahrelang offen, bis die Berliner Senatsverwaltung für Finanzen genau dies feststellte.
Thiel und ihre Kollegen stecken deshalb in der Klemme. Sie sollen nachzahlen, obwohl sie die Umsatzsteuer in den vergangenen Jahren niemals explizit in Rechnung gestellt hatten. Manche sehen sich deshalb vor dem finanziellen Ruin. Doch keiner getraut sich, deshalb gegen seinen Brötchengeber zu klagen. Die Bundestagsverwaltung sieht trotzdem bei sich "keine Versäumnisse". Das Problem sei allein Sache der jeweiligen Honorarkraft, sagte ein Sprecher.
Mittlerweile hat die Bundestagsverwaltung in der Öffentlichkeitsarbeit und im Besucherdienst einiges umorganisiert, um dem Vorwurf zu entgehen, Scheinselbständige zu beschäftigen. Trotzdem interessieren sich auch Abgeordnete inzwischen für das, was hinter den Kulissen des Bundestags vorgeht. Hans-Christian Ströbele (Grüne) und Ottmar Schreiner (SPD) verlangen Akteneinsicht in einen internen Prüfbericht der Bundestagsverwaltung, was ihnen bisher verweigert wird. Thiel sagt: "Soziale Verantwortung eines Arbeitgebers sieht anders aus."