Es ist gut, wenn in Zeiten planvoller Geschichtsvergessenheit in Bezug auf Russland wenigstens hierzulande Alexandra Kollontai (1872 – 1952) gedacht wird. Barbara Sichtermann und Ingo Rose haben sich ihrer jetzt in einer Romanbiografie angenommen, die sehr ergiebig anhand von Originaltexten vorgeht. Wer war diese Frau mit den „vielen Leben“? Sie wirkte als Aktivistin des innersten Zirkels der Oktoberrevolution um Lenin und Trotzki, als Politikerin, Publizistin, Diplomatin. Ihr Denken galt der Neubestimmung der Position der Frau zunächst in der sozialistischen Gesellschaft. Sie sollte von allen Zwängen unabhängig und nicht „Schatten des Mannes“ sein. Als Voraussetzung galt die Abschaffung des Kapitalismus. Sehr früh erkannte sie nicht nur den Wert der Frau als gesellschaftliche Produktivkraft, sondern richtete ihren Blick auf neue Lebensweisen ohne dominante männlichen Normen. Das war in der frühen Sowjetunion ein Novum, man ließ sie gewähren.
Als Hausfrau fühlte sie sich wie einem „Käfig“
Kollontai entstammte einer adeligen Petersburger Gutsbesitzer- und Generalsfamilie mit hohem Bildungsanspruch. Abweichend von üblichem Kodex ging sie eine Liebesheirat ein, empfand jedoch bald ihr Dasein als Hausfrau und Gattin als „Käfig“. Der Besuch einer der größten Textilfabriken „entschied mein Schicksal. Ich konnte nicht mein glückliches, ruhiges Leben führen, wenn das Arbeitervolk so furchtbar versklavt war. Ich musste in diese Bewegung hinein“. 1898 verließ sie die Familie wegen eines Studiums in Zürich, kehrte bald zurück, schloss sich der russischen Sozialdemokratie an, die sie mit Agitations- und Organisationsarbeit unterstützte. Signifikanter war ihre aktive Teilnahme an der Revolution 1905 in Petersburg.
Mehr als Kaderarbeit für die Partei bedeutete ihr direkter Kontakt zu bäuerlichem Elend, zu Fabriken. Doch von dieser delegiert, lernte sie die politische Szenerie Westeuropas kennen. Von Verhaftung bedroht, tauchte sie unter, es schloss sich ein zehnjähriges Exil bis 1917 in Paris und Skandinavien an, dabei agierte sie als Verbindungsglied zwischen Lenin in der Schweiz und der illegalen Partei in Russland. 1917 beauftragte Lenin sie mit dem Ministerium für Soziale Fürsorge. Es folgten bis 1922, als sie aller öffentlichen Funktionen verlustig ging, Ämter im Bereich Agitation und als Leiterin der Frauenabteilung der russischen KP und der Komintern. Bis 1945 fungierte sie als Botschafterin in Oslo und Stockholm. Gewiss war sie keine Theoretikerin, aber ihre Schriften eröffnen plastisch Zugänge zur frühen Frauenemanzipation, Sozialpolitik, zum Verhältnis Sozialismus und Demokratie. Gedankt hat ihr die russische Gesellschaft kaum, dass sie den stalinistischen Terror 1937 überlebt hat, nimmt Wunder. Molotow meinte dazu spröde: „Sie hat uns nicht geschadet.“