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Frankreichs extreme RechteDieser 28-Jährige entteufelt Marine Le Pen

Lesezeit: 7 Min.

Jordan Bardella ist das neue Gesicht der Ultrarechten Frankreichs, jung und populär, trainiert in Mäßigung. So führt er den Rassemblement National als klarer Favorit in die Europawahl.

Von Oliver Meiler, Hénin-Beaumont

Dann endlich, mit fast einer Stunde Verspätung, geht das Licht aus im Saal. Über den großen Bildschirm flirren in schneller Abfolge düstere Bilder von einem wolkenverhangenen Europa, ein Strudel, begleitet von dröhnendem Bass. Wie im Trailer für einen Kinofilm. Einmal steht da die Losung: "Europa am Scheideweg." Dann: "Die Völker stehen auf." Ein bisschen Apokalypse im Espace François Mitterrand, einem Sportzentrum in Hénin-Beaumont, einer Kleinstadt im Norden Frankreichs. Früher war das ein Bergbaugebiet, Arbeiterstadt, politisch links. Nachdem die Minen geschlossen wurden, ist es eine Hochburg der extremen Rechten geworden. Die Linke? Der begegnet man nur noch in den alten Namen: Espace Mitterrand, ausgerechnet!

Die Leute ganz vorn vor der Bühne wedeln mit französischen Trikoloren, die anderen halten ihre Handys hoch zum Filmen. Es ist heiß, eine Wand aus aufgeregten Menschenkörpern. Die Veranstalter könnten die Notausgänge öffnen für etwas frische Luft, aber auf die Idee kommt niemand.

Jordan spreche ihr aus dem Herzen, sagt eine junge Frau im Publikum

Gleich wird das Spitzenpersonal des Rassemblement National die Bühne betreten: Marine Le Pen und, vor allem, Jordan Bardella, der Superstar der extremen Rechten Frankreichs, Listenkopf der Partei bei den Europawahlen vom 9. Juni. Der Mann mit dem Lächeln, der Entteufler der Partei, das neue, faltenlose Gesicht der Lepenisten. Er ist erst 28, das Haar frisiert er sich nach hinten.

"Jordan spricht uns aus dem Herzen, er ist die Zukunft", sagt Chloé, 18 Jahre alt, ihr Nachname geht im Lärm unter. Sie war früh da, damit sie es in die vordersten Reihen schafft. Warum sie die harte Rechte wähle, wo doch früher vor allem Rentner und Nostalgiker von Vichy sie wählten? "Wegen der Unsicherheit und der Immigration, wegen dem, was in Calais passiert", sagt sie. Das treffe sie direkt. Calais und seine Camps, in denen Migranten leben, die nach England wollen, sind hundert Kilometer entfernt von hier. "Ja, Sicherheit ist das wichtigste", sagt Paul, 19 Jahre alt, Gendarm. Er könne das nur bestätigen, er wisse das aus seinem Job.

"Mes amis", sagt Bardella zum Publikum, als er dann dran ist. "Meine Freunde." Er trägt ein weißes Hemd, dunkle Jeans. Zwanzig Minuten wird er reden, es ist der Schlussakt, danach kommt nur noch die Nationalhymne, die Marseillaise. Er schwitzt nicht, er verredet sich nicht. Alles glatt und gerundet, tausendmal geübt. Eine Boyband, er allein.

Auf Tiktok, dem sozialen Medium der Jungen, folgen ihm mehr als eine Million Menschen. Bardella ist in diesem Jahr auch der einzige Politiker, der es in die Top 50 der beliebtesten Franzosen geschafft hat, einer Rangliste, die das Umfrageinstitut Ifop und die Sonntagszeitung Journal du Dimanche seit vielen Jahren erstellen. Bardella belegt Rang 30. Man hört jetzt auch, in Frankreich herrsche "Bardellamania", das ist etwas übertrieben, aber falsch ist es nicht. Obschon niemand genau weiß, wer dieser junge Mann eigentlich ist, woher er kommt, was er denkt.

Bardella hätte gerne ein Buch geschrieben, in dem er über sich selbst erzählt, es sollte vor den Wahlen herauskommen. Eine Autobiografie, mit 28. Aber dann gab es Probleme mit dem Verlag und dem Ghostwriter. Und so begannen die französischen Medien damit, Anekdoten aus seinem jungen Leben zusammenzutragen.

Die Legende des armen Jungen aus der Banlieue geht nicht ganz auf

Bardella wächst in Drancy auf, einer Vorstadt von Paris. Die Eltern trennen sich, als er noch klein ist. Vom Vater spricht er nie, dabei gäbe es einiges zu berichten. Seine Mutter, die das Einzelkind großzieht, ist Hilfskraft in einer Vorschule.

Die Bardellas sind ursprünglich Italiener, die Mutter kommt aus Turin, in den Sechzigerjahren waren sie nach Frankreich gezogen. Aus diesen zwei Elementen, Jugend in der schwierigen Banlieue und Kind der Immigration, wird der junge Mann mit dem englischen Vornamen, den die Franzosen wie "Schordann" aussprechen, seine Geschichte ableiten, seine Erzählung. Sie geht so: Ich komme von ganz unten, aus einer Familie von Immigranten, die noch wirklich Franzosen werden wollten, die dieses Land liebten, seine Gesetze achteten, seine Kultur, die harte Arbeit, und ich habe es trotzdem nach ganz oben geschafft - über den "Périph", die Ringstraße, und rein in die große Stadt, nach Paris.

Was er nicht erzählt: Der Vater ist Manager eines mittelgroßen Unternehmens, das Getränkeautomaten vertreibt. Als der Junge 19 wird, kauft er ihm ein Auto, einen Smart, damit der Sohn nicht mehr Metro fahren muss, das mag er nicht. Sie unternehmen eine lange Reise in die USA. Der Vater kauft ihm auch eine Wohnung. Diese kleinen Anekdoten aus dem Leben stehen etwas quer zur Legende des armen Aufsteigers aus der Banlieue.

Bardella studiert eine Weile Geografie an der Sorbonne, bricht aber bald ab, weil ihm das Studieren nicht so liegt. Er hat für sich schon früh die Politik entdeckt - und natürlich "Marine", wie er sie immer nennt, Marine Le Pen, die findet er ganz toll. Mit 16 klebt er Wahlplakate von "Marine" an die Wände: Sie tritt damals, 2012, zum ersten Mal bei der Präsidentschaftswahl an, gegen François Hollande.

Die Partei heißt noch Front National, sie ist das Geschöpf von Marines Vater, von Jean-Marie Le Pen, dem Paria der französischen Politik, einem notorischen Antisemiten. Aber Bardella stört das nicht, für ihn ist der Front National eine Rampe, ach was: ein Katapult raus aus Drancy.

Er verliebt sich in die Tochter des Chefs einer rechtsextremistischen Schlägertruppe

Er verbringt nun viel Zeit in der Parteizentrale. Ein schmächtiger, langer Junge, immer im Anzug. Seine Kameraden aus den Anfängen erinnern sich, wie er mit einem Notizbüchlein in einer Ecke sitzt und alles notiert, still, reserviert. Was die Frontisten über die sogenannten neuen Immigranten sagen, über die, die ins Land kämen und dieses Land nicht liebten, wie seine Eltern es liebten, die es nicht respektierten, seine Kultur und Sitten, das glaubt er zu kennen. Im Hochhaus in Drancy leben Familien aus Nordafrika, manche Frauen tragen den Nikab.

Bardella lernt Figuren aus der harten identitären Szene kennen, die um den Front National schwirren - ein kleines, verschworenes Milieu. Er verliebt sich in die Tochter von Frédéric Chatillon, des rechtmäßig verurteilten Chefs der rechtsextremistischen Schlägertruppe "Groupe Union Défense", kurz "GUD". Und da dieser Chatillon sehr eng ist mit Marine Le Pen, findet sich Bardella bald im inneren Zirkel der Lepenisten wieder. Auch über Chatillon redet er heute nicht gern. Recherchen der Zeitung Libération und des Fernsehsenders France 2 zeigen aber, dass dieser bis heute für die Lepenisten arbeitet.

Seine Wahl in den Regionalrat der Île-de-France bringt Bardella das erste stabile Einkommen ein, mit 20. Man sieht ihn nun oft in den schönen Bars von Paris, Rive Gauche, linkes Ufer der Seine, eine Welt entfernt von Drancy. Unter Freunden nennen sie ihn "Monsieur Rooftop", weil ihm die Cocktailbars auf den Dächern am besten gefallen. Er ist ein Meister des Networkings, er wechselt auch mal schnell den Mentor in der Partei, wenn das nötig ist fürs Weiterkommen.

"Jetzt kann mich ein Lastwagen überfahren", sagt Marine Le Pen. Der Erbe steht bereit

2019 bietet ihm Le Pen an, Spitzenkandidat bei den Europawahlen zu werden. Die Partei heißt nun Rassemblement National und will neu wirken, modern, moderat, "entteufelt" eben, so nennen es nicht nur die Medien, sondern auch die Lepenisten selbst. Und Jordan Bardella, mittlerweile 23, soll das Gesicht dieser Wandlung sein. "Für meinen Riecher sollte man mir eine Medaille verleihen", sagt Le Pen einige Jahre später, als Bardella mit seiner Popularität alle überflügelt, auch sie selbst. "Jetzt kann mich ein Lastwagen überfahren", sagt sie auch. Bardella ist der designierte Erbe.

Die Europawahlen heben Bardella in die hohen Sphären der nationalen Politik. In Straßburg und Brüssel sieht man ihn nur, wenn da etwas Großes passiert und die Fernsehsender berichten. Sonst sitzt er lieber in den französischen Talkshows und zeigt sein berühmtes Lächeln, es gräbt Grübchen in die Wangen, es legt die Zähne frei.

2022 übernimmt er die Partei. Er ist der erste Präsident der Frontisten, der nicht Le Pen heißt, eine Zäsur, auch wenn "Marine" natürlich die Chefin bleibt, die Patronne. Noch, wenigstens.

Und der Zögling wird immer besser. Früher nannte man ihn einen Roboter oder Cyborg, den Le Pen in die Welt geschoben habe, damit er ihre Schlagwörter rezitiere. Ein Sprechautomat. Nun ist er plötzlich eine Figur für sich, fast unverschämt leicht auf der Bühne.

Im TV-Duell gegen Attal ist er chancenlos. Aber das muss nichts heißen

Nur einmal muss er sich geschlagen geben, das war neulich im TV-Duell gegen Premierminister Gabriel Attal, der selbst erst 35 Jahre alt ist. Attal zerlegte alle Slogans, demontierte Bardellas Propaganda zum "ökonomischen Patriotismus" im europäischen Einheitsmarkt und zu einer "doppelten Grenze gegen Migranten" - eine von Frontex auf dem Meer und eine zweite an den Landesgrenzen. Wie soll das gehen, Grenzkontrolle Meter für Meter?

Alle Kommentatoren waren sich danach einig: Attal war eine Klasse besser, tiefer drin in den Themen, er ist ja auch Premier. Doch Bardella blieb gelassen, er verlor auch sein Lächeln nicht.

"Vier Jahre Training waren nötig dafür", sagt sein Medientrainer Pascal Humeau in einem Interview mit France 2. "Das Minimalziel war es, dass sich die Leute sagen: 'Für einen Fascho macht er einen ganz sympathischen Eindruck'." Bardella trainiert auch seine breiten Schultern, wie ein Schwimmer will er aussehen, damit er hinter dem Rednerpult etwas hergibt. Und er redet ruhig, wird selten laut, er macht niemandem Angst. Manche vergleichen ihn jetzt mit dem Gaullisten Jacques Chirac, als der jung war. Äußerlich passt der Vergleich, Bardella gefällt sich darin. Es heißt, er trage die Haare auch deshalb so.

Dabei sagt er radikale Dinge, wie sie die Lepenisten immer schon sagten und noch immer sagen, auch an diesem Abend im Espace Mitterrand, nur eben ohne Schaum um den Mund. Die Immigration? Sie bleibt die erste Obsession. Sie ist an allem schuld, an der Kriminalität, der Gewalt gegen Frauen, dem Niedergang Frankreichs, sogar am staatlichen Schuldenberg. Sozialzuschüsse sollen nur noch bedürftige Franzosen bekommen dürfen. Er behauptet auch, für Emmanuel Macron, den Präsidenten, sei die Immigration ein "Projekt", der lasse alle rein. Es klingt darin die Theorie der extremen Rechten an, wonach die Elite einen "großen Austausch" des Volkes anstrebe: Muslime anstelle von Christen.

Die Islamfeindlichkeit, sie hat den Antisemitismus abgelöst. Doch wenn einer aus dem Publikum "Raus mit ihnen" ruft, bringt Bardella ihn sofort zum Schweigen. Er ist diszipliniert, nur keine Patzer jetzt. "Frexit" war einmal, auch den Euro will man nicht mehr aufgeben. Nichts soll die Leute verängstigen und den Sieg gefährden.

In den Umfragen steht Bardellas Liste kurz vor der Wahl bei 32 Prozent, die der Macronisten bei etwa 16 Prozent. Das wäre ein Triumph, der dritte Erfolg in Serie bei Europawahlen für die Europaskeptiker. 2027 will er Premierminister werden, das ist auch der Plan von Marine, wenn sie dann Präsidentin wäre. Er sieht sich schon in der Rolle, er lernt Englisch. "Wir bereiten uns auf die Macht vor", sagt Bardella. Mit 28 und Lachgrübchen.

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