Marschall Philippe Pétain:Frankreichs "größte Niederlage seiner Geschichte"

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In die endlose Pétain-Debatte hatte zum 100. Jahrestag von 1914 einer der besten Pétain-Kenner eingegriffen: der Historiker Marc Ferro, ein Widerstandskämpfer gegen die Deutschen, also des Pétain-Kults unverdächtig, Verfasser einer fast 800 Seiten dicken Biografie des Marschalls. Unter dem Titel "Pétain, die Wahrheit" beantwortete er in einem neuen Buch so aufwühlende Fragen wie : Waren der Pétainismus und sein System, nach der Pétain-Hauptstadt gern verkürzt "Vichy" genannt, nur eine "Parenthese" in der Geschichte Frankreichs oder Teil einer historischen Grundströmung? Antwort: "Vichy existierte schon vor Vichy."

Ein weiterer Autor, Frédéric Salat-Baroux, unter dem Staatschef Jacques Chirac Generalsekretär des Elysée-Palastes, stellte in einer neuen Expertise mit dem Titel "De Gaulle-Pétain, das Verhängnis, die Wunde, die Lektion" die Diagnose: "Die Wunde Vichy ist unverheilt. Jeder Franzose wird sich noch auf lange Zeit die symbolische Frage stellen: Bin ich ein Kind der 40 Millionen Pétainisten oder der Résistance?"

Wehrmachtssoldat durchsucht französische Gefangene, 1940

Wehrmachtssoldat durchsucht zwei französische Kriegsgefangene 1940.

(Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Die "40 Millionen Pétainisten" stehen für das französische Volk, das im Mai und Juni 1940 "die größte Niederlage seiner Geschichte erlitt", so der Nobelpreisträger François Mauriac damals im Figaro. In nur sechs Wochen hatte Hitlers Wehrmacht die französischen Armeen überrannt und ihre besten Einheiten bei Dünkirchen eingekesselt. Am 14. Juni 1940 waren die Deutschen in das zur offenen Stadt erklärte Paris eingezogen, das sie 1914 unter schwersten Verlusten vergeblich zu erreichen versucht hatten.

1940 aber gelang es den Franzosen zu keinem Zeitpunkt, überhaupt wieder eine geschlossene Front herzustellen. Fächerartig fluteten die deutschen Panzerdivisionen von der unteren Seine aus durch die Weiten Nordfrankreichs bis in die Bretagne und über die Loire, vorbei an Kolonnen waffenloser französischer Soldaten, die, oft ohne deutsche Bewacher und mitunter in geschlossenen Einheiten, nach Osten in die Gefangenschaft marschierten.

Sie begegneten einem Strom französischer Zivilisten von sechs, acht, vielleicht zehn Millionen Menschen, die vor den Schrecken des Krieges und aus Angst vor den Deutschen nach Westen und Süden flohen und Straßen wie Bahnhöfe verstopften.

Es war der "große Exodus" einer verzweifelten Bevölkerung, die nicht verstand, wie es zu diesem so unversehens über sie hereingebrochenen Debakel kommen konnte, nur 22 Jahre, nachdem Frankreich der letzten deutschen Invasion heroisch widerstanden und schließlich gesiegt hatte. Gab es denn keinen Retter, nirgends?

Ruf als "menschlicher General"

Es gab ihn - scheinbar. In der äußersten Not rief Ministerpräsident Paul Reynaud den "Sieger von Verdun" von seinem Botschafterposten in Madrid nach Paris, den Marschall Pétain. Jahrzehnte nach den Ereignissen braucht es "viel Vorstellungskraft, um das ungeheure Ansehen zu begreifen, das sich mit dem Namen und der Person Pétains verband", schreibt der Historiker René Rémond in seiner großen Geschichte Frankreichs im 20. Jahrhundert.

Pétain war, inzwischen 80 Jahre alt, "der berühmteste lebende Franzose", vor allem für die Millionen Soldaten, die unter ihm, dem letzten Oberkommandierenden des Ersten Weltkrieges, gekämpft hatten. Denn er genoss den Ruf, bei seinen Befehlen vor allem darauf zu achten, das Leben der Soldaten zu schonen, sie nicht gegen gut befestigte, von der Artillerie noch nicht zerstörte Stellungen anrennen zu lassen, nur um ein paar Meter Gelände zu gewinnen.

Berühmt gewordene, knorrige Pétain-Sätze wie "das Feuer tötet" oder "die Artillerie erobert, die Infanterie besetzt", brachten ihm bei der Truppe große Sympathien ein, und er ließ es bei Worten nicht bewenden. Er verbesserte das Elendsleben des "poilu" in den Schützengräben, vor allem durch bessere Verpflegung und mehr Urlaub, und ließ jede Division ablösen, die ein Drittel ihrer Mannschaftsstärke verloren hatte.

Zu seinen populärsten Maßnahmen gehörte, dass beurlaubte Frontkämpfer nicht mehr tagelang auf verstopften Bahnhöfen herumliegen mussten, bevor ihr Zug kam - ein "menschlicher General".

Und der "republikanischste" unter allen. Pétain, Bauernsohn aus Nordfrankreich, von Mönchen erzogen, war Katholik, aber kein praktizierender, der gern spottete: "Eine gute Messe hat noch niemandem geschadet." Später, in der Zwischenkriegszeit, mied er, obwohl Kriegsminister, die Pariser Salons und mischte sich nicht in die Tagespolitik ein.

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